Terror in London – Das Grobe oder die Vorwarnung für Gröberes
Staat und Gesellschaft müssen sich nicht länger weigern, die Ungerechtigkeiten zu thematisieren
Dass die Erde ihr Gleichgewicht durch Naturgewalten sucht, ist jedem klar. Folgt die sogenannte terroristische Gewalt derselben Logik hinsichtlich ihrer Ursächlichkeit und Folgen? Sind terroristische Gewaltaktionen eine Vorwarnung für eine große Katastrophe – das Gröbere – oder sind sie selbst wie die Naturgewalten, etwa zuletzt Harvey, Irma oder José, eine stabilisierende Kraft des Systems? Auf jeden Fall etabliert sich das frühe 21. Jahrhundert als Zeitalter des Terrorismus. Kaum ein Tag ohne islamischen Anschlag, kaum ein Tag ohne Tote. Jetzt wieder London, zuvor Paris, Brüssel, Istanbul, Berlin, Manchester, aber auch Burkina Faso, Mali, Syrien, Afghanistan, Ägypten, kürzlich ein Messerstecher in Hamburg, Finnland oder Sibirien, jetzt Birma. Meine Aufmerksamkeitsspanne wird immer kürzer, die Erinnerung verblasst schneller – ich glaube für jeden von uns. Ich kann nicht mehr die Orte des Schreckens in die richtige Reihenfolge bringen. Der terroristische Anschlag in der Londoner U-Bahn am 15. 09. 2017 bekräftigt erneut meine stumpfe Furcht, dass Terror global zum “Business as usual” geworden ist , ein Usus. Auch mein Entsetzen stumpft ab. Mein Einfühlungsvermögen in die Täter und meine Empathie für die Opfer drängen mich “closer and closer” zu der Frage: Wo liegen die Ursachen des Terrors, welche Dynamik beschleunigt ihn? Ist der Terror selbst die Ursache, das Auge, wie von Harvey, Irma oder José ? Wie ist er zu bremsen?
Um diese Fragen zu beantworten, setze ich zunächst das Wissen voraus, dass Terror aus dem Empfinden von Ohnmacht entsteht und häufig in Allmachtsphantasien und im Tod von jungen Menschen in ihren besten Lebensjahren endet. Weiteres muss ich wissen, dass die Lebensläufe der späteren Täter mit frühen Belastungen in der Familie und/oder in Heimen auch als Ausfluss von Systemfehlern zu betrachten sind. Vor 40 Jahren sind viele der RAF-Terroristen (Deutschland) oft aus dem Bildungsbürgertum gekommen. Sie wuchsen ohne Väter auf, waren also monoparentale Kinder. Wer im Gefängnis landete, radikalisierte sich womöglich weiter, auch durch die harte Behandlung der RAF-Gefangenen durch die Justiz. Diese Stufen sind bei einem RAF-Terroristen genauso zu finden wie bei einem IS-Kämpfer, so der Jurist und Psychoanalytiker Lorenz Böllinger. Sie führten im Extremfall zur Bereitschaft zu morden. Ein Kind, das in den Krieg zieht, beschafft sich eine Legitimation dafür. Diese Kinder können später statt ihre eigenen Väter den “Papa Staat” zur Rechenschaft ziehen, um die eigenen Schmerzen zu kompensieren. Ihre Ohnmacht kann sich in Hass und mitunter rauschhafte Größengefühle verwandeln. Terroristen jeden Couleurs, ob vor 40 Jahren die RAF, die die Spitze aus Politik, Wirtschaft und Militär treffen wollte, oder heute die Dschihadisten, die wahllos Menschen töten, haben ein Gemeinsames: Hass, Hemmungslosigkeit und noch dazu einen gemeinsamen Telos, ob “Allahu Akbar” oder “Papa Staat”, sie plädieren für die höchste Gerechtigkeit eines Vater Staats.
Welchen Einfluss hat in diesem Zusammenhang die Tradition der Feindschaft zum “Gegner”, um selbst gut dazustehen? Wesentlich dazu beigetragen hat der Durchbruch des monotheistischen Satan-Dogmas – das Gesicht des Bösen heißt im Christentum Satan -, durch den kulturell das ewige Feind-Suchen verstärkt wurde. Dieser Drang zum Feind-Suchen hat auch die politischen Parteien Österreichs befallen und verwandelt sich zunehmend in den “Fremden-Entdecken”. Und gesellschaftlich wird der Fremde immer mehr als Störenfried gesehen. Die Frage ist, wie man diese Kulturmentalität überwinden kann?
Ausgehend von der Ansicht des Mitautors an der RAF-Studie, dem Kriminologen und Sozialwissenschaftler Fritz Sack, dass die fortschreitende Ungleichheit zwischen dem Westen und anderen Gesellschaften den Nährboden bildet, auf dem islamischer Terror gedeiht, und Gefährder heute wie damals nicht allein durch polizeiliche Mittel gebremst werden können, dann heißt das im Klartext: Staat und Gesellschaft müssen sich nicht länger weigern, Ungerechtigkeiten zu thematisieren, z.B. bezüglich der Einstufung und Behandlung von Menschen, die über die Balkan- oder Südroute (Mittelmeer) in den Westen kommen. Bis jetzt kann man feststellen, dass die meisten auf der Südroute gekommenen Menschen, die um Asyl ansuchen, nicht mit terroristischen Mitteln ausgerüstet sind, um hier die Menschen und Gesellschaft zu stören. Sie kommen mit guter Absicht. So gesehen stimme ich mit Lorenz Böllinger überein, der daran erinnert, dass auch viele Flüchtlinge, die zu Dschihadisten wurden, gedemütigt wurden und häufig traumatisiert sind. Doch nicht alle Gedemütigten werden zum Attentäter, nur eine Minderheit. Die meisten bleiben friedlich. Andere schaffen den Ausstieg. Terroranschläge, wie aktuell in London, sollen nicht die Früchte der Asylpolitik und Migration, der Demokratie und der Menschenrechtskonvention in Misskredit bringen. Diskurse müssen entstehen.