Das „Möglichkeitsfenster“
Von der Schamlosigkeit der Politik zur Scham des Politischen
In diesen Tagen versammeln sich Menschen in vielen Städten der Welt, um gegen die Verbrechen in Libyen zu demonstrieren. So forderten auch heute in Wien Menschen vor der libyschen Botschaft „Freiheit und Gerechtigkeit für Migrant*innen und Flüchtende in Libyen! Schluss mit der Finanzierung von Versklavung, Vergewaltigung, Folter und Mord für EU-Migrationspolitik!
Bereits in der Vergangenheit hatte es viele Informationen über die unmenschlichen und mörderischen Zustände gegeben, denen Flüchtlinge in Libyen ausgesetzt sind. Die UN-Organisation für Migration (IOM) hatte bereits im April über Sklavenhandel in Libyen berichtet. Deutsche Diplomaten dokumentierten „allerschwerste, systematische Menschenrechtsverletzungen“ und „KZ-ähnliche Verhältnisse“. Und der Reuters-Fotograf Narciso Contreras schildert über seine Fotodokumentationen aus dem Land: „Was ich dort vorgefunden habe, war ein Sklavenmarkt, es ist wie eine Industrie, aber die Welt betrachtet Libyen nur als Transitland“.
Trotzdem hat erst ein CNN-Bericht aus der vergangenen Woche eine Reihe von politischen Reaktionen hervorgerufen: Das Video zeigt laut CNN einen jungen Nigerianer, der als Teil einer Gruppe „großer, starker Jungen für Feldarbeit“ zum Kauf angepriesen werde. Eine Stimme aus dem Off, bei der es sich laut CNN um die des Auktionators handeln soll, sagt: „800… 900… 1.000… 1.100“, bevor zwei Männer für umgerechnet 875 US-Dollar verkauft werden.
Daraufhin kündigte der libysche Vizeregierungschef Ahmed Metig die Einrichtung einer Untersuchungskommission an: „Wenn die Vorwürfe zutreffen, werden die Verantwortlichen bestraft“, teilte das Außenministerium mit. Der UN-Generalsekretär António Guterres forderte ebenfalls eine Untersuchung. „Sklaverei habe keinen Platz in unserer Welt“, sagte Guterres. Die Versteigerungen gehörten „zu den ungeheuerlichsten Menschenrechtsverstößen und könnten Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichkommen“. Auch der Präsident Frankreichs, Emmanuel Macron, schließt sich diesem Urteil an. Frankreich hat nun ein Treffen des UN-Sicherheitsrats beantragt, um für den Fall, dass „die libysche Justiz nicht in der Lage ist, die Verfahren erfolgreich durchzuführen,… ein internationales Sanktionsverfahren ein(zu)leiten“.
Der Vorsitzende der Afrikanischen Union, Guineas Präsident Alpha Condé, forderte ebenfalls Aufklärung und Strafverfolgung wegen des „verabscheuungswürdigen Handels“, das an ein anderes Zeitalter erinnere.
Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini reagierte bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Moussa Faki Mahamat, dem Präsidenten der Kommission der Afrikanischen Union: „Wir können die Berichte über die Behandlungen von Migranten durch andere Menschen nicht ignorieren“ und stellte eine engere Zusammenarbeit zwischen der EU und der Afrikanischen Union (AU) in Aussicht. Für Mogherini sei Sklavenhandel in Libyen „leider nichts Neues“, die Berichte seien aber auch „ein Möglichkeitsfenster“, um politisch etwas zu verändern, wie etwa auf dem EU-Afrika-Gipfel kommende Woche in der Elfenbeinküste.
Nach Ansicht des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, Said Raad al-Hussein, trägt die Europäische Union eine Mitschuld an der Unmenschlichkeit. Die Unterstützung für die libysche Küstenwache führe dazu, dass noch mehr Menschen unter entsetzlichen Bedingungen in libyschen Haftzentren eingepfercht würden. Derzeit befinden sich in diesen Lagern etwa 20.000 Menschen. Doch das „Möglichkeitsfensters“ Federica Mogherinis bleibt geschlossen, wenn es um das Ausbildungsprogramm für die libysche Küstenwache geht. Das Trainingsprogramm, mit dem bereits 142 libysche Küstenschutzkräfte ausgebildet worden seien, wird weitergehen: „Wir trainieren sie, damit sie in den Küstengewässern gegen Schleuser vorgehen und Menschen aus Seenot retten können“
Die Regierung von Ruanda öffnet hingegen die Tore und will bis zu 30.000 afrikanische MigrantInnen aus Libyen aufnehmen. Ruanda könne nicht schweigen, „wenn Menschen misshandelt oder wie Vieh verkauft werden“, sagte die Außenministerin des ostafrikanischen Landes, Louise Mushikiwabo.
In den „Briefen aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern“ schreibt Marx an Ruge: „Die Scham ist schon eine Revolution … Scham ist eine Art Zorn, der in sich gekehrte. Und wenn eine ganze Nation sich wirklich schämte, so wäre sie der Löwe, der sich zum Sprunge in sich zurückzieht.“
Nicht nur die EU-Politik kann sich ihrer Schamlosigkeit nicht entziehen: Der unaufhörlichen Entblößung der Selbstentfremdung und Selbstentwertung. Selbst wenn Merkel abermals erröten mag, bleibt das Fenster zur Selbstachtung verborgen und die Unfähigkeit, Scham zu zeigen, erhalten.
Vielleicht bedarf es einer Revolutionierung des Politischen selbst, damit sich das europäische Dispositiv, nach Foucault, zwischen „dem alten Recht des Souveräns, sterben zu machen oder leben zu lassen und der Macht, leben zu machen oder sterben zu lassen (in den Tod zu stoßen)“ emanzipiert und wie Achille Mbembe meint, eine Dekolonisierung Europas möglich wird.
Simone Prenner