Der Tätowierer

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Inhalt:

Dirk Schreiber überfiel Menschen, verschleppte sie und tätowierte sie gegen ihren Willen. Er betrachtete sich als Künstler.

Playlist:

Easy Rider – The Pusher – BY-NC-ND
Martin Auer – Der Tätowierer 1 – BY-NC-SA
Bruce Gremo – Cilian Developments – BY-NC-ND
Martin Auer – Der Tätowierer 2 – BY-NC-SA
Ergo Phizmiz – A Courtly Knees Up – BY-NC-SA
Kevin McLeod – Signation – BY

Text:

F: Dirk Schreiber, Sie sind praktisch sofort nach Ihrer Entlassung aus der Haftanstalt zur Eröffnung Ihrer ersten Ausstellung im New Yorker Guggenheim Museum geflogen.

A: Ja, so war’s. Am Gefängnistor hat eine Limousine gewartet und mich zum Flughafen gebracht.

F: Was war das für ein Gefühl? Einen so krassen Gegensatz erlebt kaum jemand, der gerade aus dem Knast entlassen wird, und das nach Verbüßung einer zehnjährigen Haftstrafe.

A: Ich weiß das nicht. Ich bin nur ein einziges Mal aus dem Knast entlassen worden. Es war auch nicht so ein starker Gegensatz. Ich hatte ja schon die ganzen Monate vorher die Ausstellung vorbereitet, viel gemalt und gezeichnet, und dann das Hängen der Bilder – das musste ich ja virtuell machen, am Computer, da ich noch nicht vor Ort sein konnte. So war dann die Reise zur Ausstellung nur der letzte logische Schritt, also nicht die große Befreiung, sondern einfach die nächste Aufgabe, die sich mir gestellt hat.

F: In der Ausstellung waren nur gemalte Bilder zu sehen? Keine Tätowierungen?

A: Es waren auch einige Tonskulpturen dabei. Sonst nur Acrylmalerei und Kohlezeichnungen. Ganz klassisch.

F: Und keine Tätowierungen?

A: Keine Tätowierungen.

F: Haben Sie in der Haft auch anderes getan als gemalt und gezeichnet? Ich meine, haben Sie über die Taten nachgedacht, die Sie in den Knast gebracht haben?

A: Sicherlich. Vor allem am Anfang, in den ersten Jahren.

F: Fanden Sie das Urteil gerecht?

A: Ob es gerecht war, kann ich bis heute nicht sagen. Aus einem gewissen Blickwinkel heraus war es sicherlich verständlich. Ich habe verstanden, dass die Richter nicht anders urteilen konnten, ja. Ich bin wegen Freiheitsberaubung und schwerer Körperverletzung in 28 Fällen zu 15 Jahren Haft verurteilt worden, wovon man mir fünf Jahre erlassen hat wegen guter Führung. Objektiv gesehen war es das wohl, Freiheitsberaubung und so weiter. Objektiv gesehen waren das diese Delikte. Aber subjektiv, muss ich sagen, subjektiv habe ich das getan, was jeder Künstler tut: Ich bin meiner inneren Stimme gefolgt. Ich habe getan, was ich tun musste.

F: Sie haben Menschen gegen ihren Willen tätowiert.

A: Ja.

F: Sie haben sie überfallen, betäubt, in ein Versteck verschleppt und sie dort gefangen gehalten, bis die Tätowierung fertig war.

A: Ja.

F: Das Gericht hat diese Taten als Verbrechen angesehen, nicht als Kunst.

A: Ja. Das war in der Kunstgeschichte schon oft so. Künstler sind wegen Verstoß gegen die guten Sitten verurteilt worden, wegen Gotteslästerung, Majestätsbeleidigung, Wehrkraftzersetzung, wegen konterrevolutionärer Umtriebe… Man hat Künstler auf dem Scheiterhaufen verbrannt, ins KZ gesteckt, in die Irrenanstalt…

F: Wollen Sie damit sagen, dass man Sie wegen Ihrer Gesinnung verurteilt hat?

A: Ich will damit sagen, wenn man als Künstler neue Wege geht, muss man damit rechnen, verfolgt zu werden.

F: Leugnen Sie, dass Sie Menschen großen Schmerz zugefügt haben?

A: Natürlich nicht. Schmerz zufügen liegt in der Natur des Tätowierens. Die Tätowierung war immer ein Zeichen: Seht her, ich habe Schmerz ertragen, ich kann das aushalten. Früher, als man noch nicht so hygienisch gearbeitet hat wie heute, hat sie natürlich auch bedeutet: Seht her, ich habe eine gute Konstitution, ein gutes Immunsystem, ich habe kein Wundfieber bekommen, keine Tetanusinfektion, was weiß ich. Unbewusst natürlich. Und das ist noch heute so. Man könnte ja eine Tätowierung auch unter lokaler Betäubung machen. Aber das wäre eine Farce. Und kein Mensch verlangt sowas. Die Menschen sind immer zu mir gekommen, um sich Schmerz zufügen zu lassen.

F: Aber doch freiwillig.

A: Ja, die Menschen, die ins Tattoo-Studio kommen, kommen freiwillig. Aber wie oft ist man unfreiwillig der Kunst oder irgend einem Medium ausgesetzt. Man geht durch die Fußgängerzone, und da spielt ein Straßenmusiker. Man geht durch ein Kaufhaus und wird mit Musik berieselt. Sie fahren mit dem Auto und werden mit Plakaten bombardiert, mit Leuchtreklamen, mit Videowänden. Das alles stürmt auf Sie ein und Sie müssen sich damit auseinandSersetzen, ob Sie wollen oder nicht. Sie gehen in eine Kinopremiere und Sie wissen nicht, welchen Schockeffekten Sie ausgesetzt sein werden. Hinterher müssen Sie vielleicht kotzen. War das jetzt freiwillig? Im vorigen Jahrhundert haben Schauspieler eine Theaterform entwickelt, „unsichtbares Theater“. Die haben an der Bushaltestelle einen Ehestreit angefangen oder etwas in der Art und haben die Passanten da hineinverwickelt und wollten den Leuten damit Inhalte in Bezug auf die Emanzipation der Frau vermitteln oder so was, und die Leute waren dem ausgesetzt und waren sich gar nicht bewusst, dass sie Kunst erleben oder sogar Teil eines Kunstwerks sind. So gesehen kann man sagen, ich habe den Menschen ein Erlebnis vermittelt, eine extreme Erfahrung, die sie vielleicht auch weitergebracht hat. Eine Art Katharsis, ein heilsamer Schrecken.

F: Sie haben sich also von Anfang an als Aktionskünstler gesehen?

A: Nicht von Anfang an. Am Anfang war es die reine Verzweiflung. Am Anfang wollte ich einfach nur gute Tattoos machen. Sehen Sie, diese ganzen Schnörkel und Arabesken, die sich die Leute so stechen lassen – das ist ja schrecklich. Das ist grauenhafter Kitsch. Ich rede gar nicht von den Tigern und Herzen und Totenköpfen. Auch das abstrakte Zeug, die chinesischen Schriftzeichen, die keltischen Runen, die Arschgeweihe, das ist ja zum Speien. Ich wollt einfach nur gute Tattoos machen, spontan, nicht nach einer Vorlage, wo die Leute sich was aus einem Katalog aussuchen, sondern ganz spontan, vom Körper inspiriert, von der Haut, von den Reaktionen auf die Nadeln. Einfach irgendwo anfangen und spüren, wo es hingeht, auf Grund der Reize, die vom Tätowierten zurückkommen, den unwillkürlichen Muskelspannungen, den Lauten, die er oder sie von sich gibt, in einen echten Dialog treten, sich gemeinsam auf ein Abenteuer einlassen. Vielleicht, wenn ich die richtigen Leute gekannt hätte, Leute aus der Szene, wie sie jetzt zu mir kommen, Leute mit Kunstverstand, ich hätte nie zu so radikalen Mitteln gegriffen. Heute, heute kommen Leute zu mir, Künstler, Schriftsteller, Musiker, die sagen: „Meister, mach mit mir, was du willst!“ Und ich sage ihnen: „Nicht was ich will. Was wir beide wollen.Wir beide werden dieses Abenteuer bestehen, wir beide werden versuchen, dieses Kunstwerk zu schaffen. Und wir beide werden siegen – oder untergehen.“ Und ich sage ihnen offen: „Es kann schiefgehen. Wir können scheitern. Das Tattoo wird vielleicht der größte Scheiß der Weltgeschichte, und dann stehst du da damit! Es gibt keine Erfolgsgarantie.“ Und die Leute sind geil auf das Risiko. Sie lassen sich darauf ein, sie zahlen im Voraus, sie unterschreiben einen Wisch, dass sie von vornherein mit dem Ergebnis einverstanden sind und auf jedes Rechtsmittel verzichten, und dann arbeiten wir zusammen, frei, in dieser wortlosen Kommunikation von Nadeln und Tusche und Körperspannung. Er spürt auf der Haut, was vor sich geht, den Schmerz der Einstiche, die Hitze der Entzündung, und ich bekomme alles von ihm zurück durch meine Hand, die seine Haut unter Spannung hält, ich spüre die Reaktionen seines oder ihres Körpers, und so arbeiten wir zusammen, wie im Rausch, und so entsteht – meistens – ein Kunstwerk.

Aber damals: „Mach mir dies, mach mir das! Mach mir einen Dornenring um den Oberarm, mach mir Stacheldraht auf den Hals, mach mir ein Arschgeweih, einen Tiger, eine Mondgöttin!“ Wenn ich einem Kunden vorgeschlagen habe: „Komm, lass uns was Freies machen, was Spontanes, was Niedagewesenes!“, dann haben sie gesagt: „Au ja, super, zeichne mir mal einen Entwurf!“ Aber genau das wollte ich eben nicht machen. Aus dem musste ich einfach ausbrechen.

F: Hätten Sie es nicht gleich mit der Malerei versuchen können, mit der Sie jetzt so großen Erfolg haben?

A: Das hätte nie geklappt. Wer war ich denn? Ein No-name. Ich hatte keine Kunstschule besucht, keine Meisterklasse, ich hatte keine Beziehungen zu irgendwelchen Galerien, ich kannte keine Kritiker. Mir war klar, ich muss etwas Unerhörtes machen, etwas Ungeheuerliches. Zuerst habe ich daran gedacht, Leichen zu tätowieren. Ich habe übers Internet Menschen gesucht, die bereit waren, mir ihren Körper nach ihrem Tod zu vermachen. Die wollte ich dann tätowieren und die Leichen haltbar machen und ausstellen.

F: Das klingt nach Gunther von Hagens.

A: Richtig. Von da kommt die Idee der Plastination. Auch noch eine andere Inspiration war da. Ich dachte, wenn man übers Internet jemand finden kann, der bereit ist, sich töten und essen zu lassen, dann muss es um so eher möglich sein, jemand für mein Projekt zu finden. Und es haben sich auch Leute gemeldet.

F: Aber…?

A: Es haben schließlich mehrere Gründe gegen dieses Projekt gesprochen. Da war einmal die ungewissen Wartezeit. Dann ist das Tätowieren einer Leiche ja auch ein Widerspruch in sich. Der Tote spürt nichts. Und zum Tätowieren gehört eben der lebendige Schmerz. Einen Toten könnte man genausogut anmalen und mit farblosem Lack überziehen. Das wäre kein wesentlicher Unterschied. Ein Unterschied in der künstlerischen Technik, aber kein Unterschied im Wesen. Auch aus diesem Grund bin ich wieder von der Idee abgekommen. Aber der entscheidende Grund war: Die Leute, die sich gemeldet haben – auch die wollten einen Entwurf sehen. Oder sie wollten mir überhaupt Vorschriften machen, mit welchen Motiven ich sie tätowieren sollten und in welcher Pose sie nach ihrem Tod ausgestellt werden wollten: Als Ninja in Angriffsposition oder als Ritter mit erhobenem Schwert oder als Mondgöttin. Genau das Zeug, das sie sich im Leben gern hätten stechen lassen, aber nicht getraut haben, das wollten sie dann im Tod darstellen. Widerlich.

F: Für die Form der Aktion, zu der Sie sich dann letztlich entschlossen haben, gab es da auch ein Vorbild, eine Inspiration?

A: Unmittelbares Vorbild natürlich nicht. Denn ich musste ja etwas machen, was noch niemand gemacht hatte. Aber die Inspiration, die kam im Grunde von den Graffitikünstlern, von den Sprayern. Die sind ja auch immer mehr von statischen auf mobile Untergründe übergegangen. Statt der Eisenbahnunterführung haben sie zum Beispiel Eisenbahnwaggons als Ziel ihrer Aktionen genommen. Damit haben sie sozusagen eine Lokomotive vor ihre Botschaft gespannt, die die Botschaft überall ins Land gebracht hat. Oder sie haben ihre Initialen auf LKW-Planen gesprüht. Ich habe eine Zeitlang überlegt, private PKWs zu besprühen.

F: Ein fast so schlimmer Tabubruch wie der, den Sie dann begangen haben.

A: Ja, das mussten Sie jetzt sagen. Als Pointe ist das ganz gut, aber in Wahrheit ist den meisten Menschen doch die eigene Haut noch ein gutes Stück näher als der Lack ihres Autos.

F: Und damit haben Sie spekuliert.

A: In dem Moment, wo mir die Idee bewusst wurde, war mir klar, dass ich damit eine ungeheure Aufmerksamkeit erzielen würde. Und das ist es, was man als Künsteler will: man will, man muss einfach wahrgenommen werden. Bevor man sich ausdrücken kann, bevor man in Dialog treten, kommunizieren kann, muss man wahrgenommen werden.

F: Man könnte ihre Aktion dann als grausamen Reklamegag abtun.

A: Bei meiner ersten Aktion war, ich muss das eingestehen, die Reklame das vorherrschende Motiv. Der Effekt hat sich aber erst beim dritten Fall eingestellt. Dem ersten hat man nämlich gar nicht geglaubt. Es war ein junger Mann, ein holländischer Student auf Ferienreise, und der war von niemandem vermisst worden. Es hatte keine Abgänigkeitsanzeige gegeben. Als der dann zur Polizei ging und meldete, ein schwarz maskierter Mann hätte ihn in einer Zelle gefangen gehalten und ihm gegen seinen Willen ein Tatoo gestochen, hat man die Anzeige zwar entegengenommen, aber weiter nicht viel unternommen. Weil das Tattoo so ungewöhnlich war, haben die Polizisten das einfach für ein schlechtes Tattoo gehalten, für ein misslungenes, und haben gedacht, der hat sich die Entführungsgeschichte ausgedacht, weil er sich für das Tattoo schämt. Auch die Medien haben ähnlich gedacht und den Fall nur in den Randnotizen im Lokalteil gebracht, aks Kuriosum, wenn überhaupt.

F: Waren Sie enttäuscht?

A: Mir war klar, dass sich der Effekt erst nach und nach einstellen kann. Als zweite Zielperson habe ich eine Frau gewählt, so Mitte dreißig. Anna S. Die Arbeit mit ihr war sehr interessant. Sie hatte am Anfang große Angst, schreckliche Angst. Und sie hat mir auch Leid getan. Ich glaube, dass viel von diesem Mitleid, diesem Mitgefühl in die Linienführung mit eingeflossen ist. Ich habe ihren Schmerz und ihre Angst an die Oberfläche geholt, ihr innerstes Gefühl auf ihrer Haut eingezeichnet. Und dann, nach einiger Zeit, hat sich die Beziehung gewandelt. Sie hat einfach ein paar Tage gebraucht um zu verstehen, dass ich kein Perverser bin, dass ich sie nicht sexuell missbrauchen oder töten will. Am Anfang musste ich sie für die Arbeit fesseln, aber später ist sie sehr ruhig geworden. Wenn ich mit dem Tagespensum fertig war – ich habe ja nicht mehr als zweieinhalb Stunden jeden Tag mit ihr gearbeitet – dann ist sie ganz still da gesessen und hat aufmerksam jede einzelne Linie sozusagen Millimeter für Millimeter mit den Augen abgesucht, so als ob sie versucht hätte, eine Schrift zu entziffern, als ob sie versucht hätte, sich selbst zu entziffern. Sie hat mich auch um einen zweiten Spiegel gebeten, um ihren Rücken und ihren Nacken sehen zu können. Das Interessante war, dass sie mich beinahe wieder um den Bekanntheitseffek gebracht hätte. Sie ist nämlich nicht zur Polizei gegangen. Sie hat das Tattoo unter ihrer Bekleidung versteckt. Und ihrem Mann hat sie gesagt, sie kann sich nicht erinnern, was geschehen ist, sie hat vielleich einen Unfall mit Gehirnerschütterung gehabt, verbunden mit Gedächtnisausfall. Ihr Mann hat natürlich zuerst an eine Affäre gedacht und dann an eine Psychose. Und als sie dann wirklich einmal einen Ohnmachtsanfall hatte, hat er den Notarzt gerufen und sie ins Spital bringen lassen, und da hat man dann die Tätowierung gesehen. Die Anzeige hat dann er erstattet.

 

F: Und was, meinen Sie, war der Grund für die Zurückhaltung der Frau? War da nicht doch eine Art Liebesbeziehung entstanden?

 

A: Es entsteht zweifellos eine sehr starke Beziehung. Aber das hat nichts mit Liebe oder Hass zu tun oder mit Sexualität. Es gibt dafür einfach kein Wort, keine Bezeichnung, weil vermutlich nur wenige Menschen so etwas jemals erleben, deshalb gibt es auch keinen allgemein verständlichen Begriff dafür. Ich hatte keinerlei sexuelle Begierden dieser Frau gegenüber, und ich bin ziemlich sicher, dass sie sie auch nicht mir gegenüber hatte. Sie hat sich zu der ganzen Sache nie öffentlich geäußert, sie hat Interviews und Fotos immer abgelehnt. Ich glaube, dass sie sehr froh war, als ich ihr angekündigt habe, dass die Arbeit nun vollendet war und ich sie freilassen würde. Aber gleichzeitig habe ich doch auch gespürt, dass sie enttäuscht war, dass das Abenteuer nun vorbei war, dass wir uns trennen mussten. Es war sicher beides vorhanden. Vielleicht wäre sie ja später auch zur Polizei gegangen, vielleicht hat sie einfach diese Zeit gebraucht, um mit sich ins Reine zu kommen, um sich klar zu werden, was eigentlich geschehen war. Ich glaube, wir haben ungefähr zehn Tage zusammen verbracht, es war schon eine recht komplexe Arbeit.

F: Aber Ihnen hat die Trennung nichts ausgemacht?

A: Oh doch. Für mich war die Trennung von meinem Gegenüber auch immer hart. Aber es hat ja keinen Sinn, die Beziehung über das ihr bestimmte Maß hinaus fortzusetzen. Und das Maß ist eben die Vollendung des Werks. Irgendwann kommt der Punkt – auch wenn man anfangs keine Vorstellung hat von dem, was entstehen soll – irgendwann kommt der Punkt, wo man weiß, das ist es jetzt. Jede zusätzliche Linie wäre zuviel. Und dann muss man aufhören. Dann muss man sich trennen. Und dieses Wissen, dieses Gefühl von der Notwendigkeit der Trennung, das habe natürlich nur ich gehabt. Meine Partner wussten das nicht, konnten es nicht wissen, weil sie zwar Partner waren, aber doch in gewisser Weise passive Partner. Ich war der aktive, der wissende Teil. Vielleicht war es für mich leichter. Meine Objekte mussten annehmen, dass sie mich nie mehr wiedersehen würden, es sei denn, vor Gericht. Ich aber konnte hoffen, ihren Weg weiter verfolgen zu können durch die Medien. Ich konnte hoffen, im Grunde damit rechnen, dass sie für mich weiter tätig sein würden, dass sie meinen Ruf verbreiten würden, dass sie, wo immer sie hinkamen, von meiner Tätigkeit künden mussten. Andererseits, muss ich sagen, haben sie etwas von mir mitgenommen, jeder und jede hat etwas Einzigartiges von mir mitbekommen auf Lebenszeit, während mir nur die Erinnerung bleibt.

F: Wie ist es weitergegangen?

A: Mein dritter Versuch war künstlerisch gesehen ein absoluter Misserfolg. Ich hatte mir für diesen Versuch ein junges und sehr hübsches Mädchen ausgesucht, ich glaube, sie war achtzehn. Sie hat leider nichts, aber auch gar nichts verstanden, weder intellektuell noch gefühlsmäßig. Sie war genau der Typ, der sonst zu mir um ein Arschgeweih oder eine Mondgöttin gekommen wäre. Als sie über den ersten Schock hinweg war, hat sie mich nur beschimpft, sich beklagt, dass ich ihren makellosen Körper verunstalte, dass mein Tattoo absolut wertlos sei und so weiter. Ich musste sie schließlich knebeln, um die Arbeit halbwegs fertigstellen zu können und es ist wirklich nichts besonderes draus geworden. Es hat einfach ihre Mitarbeit völlig gefehlt.

F: Aber von der Publicity her gesehen war das Ihr erster großer Erfolg.

A: Von der Publicity her war es ein großer Erfolg. Natürlich. Sie war hübsch, ein gefundenes Fressen für die Fotografen, und, wie man so sagt, eine absolute Medienschlampe. Und damit ist natürlich jetzt der Hype losgegangen. Jetzt ist auch der Polizei klargeworden, dass da ein Serientäter am Werk ist, man hat sich auch an den holländischen Studenten wieder erinnert und ihn noch einmal einvernommen. Man hat auch Kunstsachverständige und Profiler herangezogen, erstens um festzustellen, ob es wirklich in allen drei Fällen derselbe Täter war, und dann eben, um irgendwelche Hinweise auf die Person, auf den Charakter zu bekommen. Und die Sachverständigen haben die Öffentlichkeit damit überrascht, dass sie erklärt haben – also vor allem Diane Waterhouse war da führend – nicht nur, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um denselben Täter handelt, sondern auch, dass, bei allen Vorbehalten gegen die gewaltsame und menschenverachtende Vorgangsweise, man den Arbeiten einen gewissen künstlerischen Gehalt nicht absprechen könne. Jetzt haben sich die Medien natürlich überschlagen, und die kleine Göre und der holländische Student sind zusammen in Talkshows aufgetreten und gewisse Illustrierte haben die beiden schon als Paar kolportiert.

Für mich war natürlich jetzt die Frage, was mach ich als nächstes. Mir war klar, die Medien warten darauf, wer wird das nächste Opfer. Und sie haben natürlich damit gerechnet, dass es wieder jemand sein wird mit einem gewissen Sexappeal. Das wollte ich unterlaufen. Zuerst habe ich mir gedacht, als nächstes nehme ich einen widerlichen, alten Fettsack. Mal sehen, was ihr daraus macht. Ab jetzt war das eben ein Spiel mit den Medien. Aber das hat mir doch selber wiederstrebt. Ich meine, ich hätte nichts gegen einen dicken Menschen gehabt, das habe ich später auch bewiesen. Aber ich wollte eben keinen widerlichen alten Fettsack, das ist schon ein Unterschied. Ich habe mich dann für einen kleinen, sehr adretten älteren Herrn entschieden, der mir eines Tages in Köln aufgefallen ist. Ich habe mir ja für jedes Projekt eine andere deutsche Stadt ausgesucht, einerseits, um mein eigenes Risiko zu minimieren, andererseits, um den Publicityeffekt zu erhöhen.

F: „Ganz Deutschland hält den Atem an“ war wirksamer als „Ganz Berlin hält den Atem an“.

A: Richtig. Meine erste Aktion war in Berlin gewesen. Berlin, München, Darmstadt, und jetzt eben Köln. Das war die Route bis dahin. Der Mann nun, er ist als Joachim R. bekannt geworden, mit ihm war das eine unglaubliche Arbeit. Er war überhaupt nicht schockiert. Er hat alles mit der größen nur denkbaren Ruhe hingenommen. Er war der erste, bei dem ich bis ins Gesicht gegangen bin und bis in die Fingerspitzen. Er hat sehr wenig gesprochen, und das war mir recht so. Aus Worten entstehen nur Missverständnisse. Ein Muskelzucken ist einfach eine Tatsache, und ein Stich in die Haut ist auch eine Tatsache. In der Kunst geht es viel weniger um Bedeutungen als um Tatsachen. Erst nachdem unsere Arbeit schon beendet war, erst nachdem ich ihm den Zeitpunkt seiner Freilassung bekanntgegeben habe, hat er mir gesagt, dass er Jude ist. Und dass er deshalb einen besonderen Bezug zu Tätowierungen habe. Sie wissen, die Geschichte mit den Lampenschirmen. Und seiner Mutter hatte man eine Nummer in den Unterarm tätowiert. Und dass es ihm als gläubigem Juden verboten sei, sich tätowieren zu lassen, weil der Körper ein Geschenk Gottes sei, das man nicht verändern dürfe. Und als ich daraufhin das Tattoo betrachtete – er ist noch nackt vor mir gesessen, als er das erzählt hatte, ganz ruhig, und hat eine Zigarette geraucht – da war alles das in dem Tattoo enthalten. Es war alles drin und er hatte es mir schon längst erzählt und ich hatte es nach seinem Diktat in seine Haut geritzt. Dieser kleine Mann – er war ein unbedeutender Antiquitätenhändler, er hatte es hauptsächlich mit Biedermeiergläsern und Jugendstildrucken zu tun – er verstand etwas von Kunst. Er hat alles erfasst. Er ist zu Diane Waterhouse gefahren, hat sein Hemd ausgezogen und sie gefragt: „Was bin ich wert?“ Und sie hat ihm einen Schätzwert gesagt. Sie hat ihm eine Summe in Dollar genannt und gesagt: Das ist das Minimum. Und er hat gesagt: Gut, jetzt weiß ich es, und hat sein Hemd wieder angezogen. Aber das war von ihm nicht dieser jüdische Krämergeist. Das war von ihm eine Aktion, das war seine Aktion. Er hat sein Hemd nämlich nie wieder vor jemandem ausgezogen. Das war seine Antwort an mich. Und ich musste das hinnehmen. Diane Waterhouse hat über die Geschichte natürlich einen riesigen Artikel im New Yorker geschrieben, bei jeder Vernissage hat sie die Geschichte erzählt, wie der kleine Jude zu ihr kommt und sich schätzen lässt.

Jetzt hatte ich, was ich wollte. Jetzt hatte ich internationale Pulbicity, die Aufmerksamkeit der Kunstwelt. Ganz klar, dass jetzt die Polizeifotos von Anna S. und Joachim R. den Weg in die Öffentlichkeit gefunden haben, neben denen von Arne und Jessica, die sich ja sowieso bei jeder Gelegenheit vor die Kamera gestellt haben. Sie können mir glauben, noch nie ist in der Fachwelt so viel über einen Künstler diskutiert worden, von dem überhaupt erst vier Werke bekannt waren. Und ich dachte, ich muss jetzt weitermachen. Es wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen aufzuhören oder mich vielleicht zu stellen um irgendwie von meinem Ruhm, den ich jetzt schon hatte, profitieren zu können. Nein, ich dachte nur, okay, ich bin auf dem richtigen Weg, ich muss das so weitermachen, ich muss mich weiterentwickeln, aber auf genau diesem Weg, den ich nun einmal eingeschlagen hatte. Meinen nächsten Coup machte ich in Italien. Einfach, weil alle meinten, ich würde mir wieder eine neue deutsche Stadt aussuchen. Aber ich machte es in Venedig, genau zur Zeit der Biennale.

F: War das nicht ein bisschen plump?

A: Das war sogar sehr plump, aber ich bin damit durchgekommen. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil man sich unsicher war, ob das jetzt ich war oder ein Neuer. Man hatte den nächsten Schlag in Deutschland erwartet, und jetzt kam er in Italien. Es hatte anlässlich der Biennale diese Diskussion gegeben, warum es in der bildenden Kunst keine Ismen mehr gibt, keine Gruppierungen, keine Schulen. Warum heutzutage jeder seine eigene Schule gründet, aber keiner ein Schüler oder Mitstreiter sein will. Und man hat gewitzelt, endlich ist es einem gelungen, eine Schule zu gründen, Nachahmer zu finden. Nach Impressionismus, Expressionismus, Surrealismus und so weiter gäbe es jetzt in der Kunst den Terrorismus. Und wieder mussten die Experten aufgeboten werden um festzustellen, ob es sich um eine Schülerarbeit oder um den Meister selbst handle. Interessanter Weise meinten ein oder zwei Experten tatsächlich, es sei ein Nachahmer am Werk. Es gab doch verschiedene Nuancen, die anders waren. Das kam aber daher, dass mein Ojekt ein algerischer Flüchtling war, mit dem ich überhaupt keine sprachliche Verständigungsmöglichkeit hatte. Das hatte doch einen Unterschied gemacht, obwohl ich glaube, dass ich die Arbeit im großen und ganzen recht gut gemacht habe.

F: Und dann haben Sie wieder in Berlin zugeschlagen.

A: Ja, wenn Sie so wollen. Ich dachte, jetzt gehe ich zurück nach Berlin, das erwartet keiner. Aber ich hatte mich getäuscht. Als mein Objekt – eine einfache Hausfrau, Tatjana F. – aus der Betäubung erwachte, sagte sie: „Ach, Sie sind der Tätowierer.“ Ich habe mit ihr nur eine mittelmäßige Arbeit zustande gebracht, die auch von der Kritik entsprechend bewertet worden ist, obwohl diese Tatjana sich gebärdet hat wie ein Pfau. Und die Bild hat getitelt: „Willkommen daheim!“. In der zitty haben damals Leute Kleinanzeigen geschaltet: „Hallo Tätowierer, ich gehe jeden Freitag nach 23 Uhr in der und der Straße spazieren, bin blond, mittelgroß und trage eine knallrote Latexhandtasche.“ Ich bin aufs Land ausgewichen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Bayern. Zwischendurch Abstecher nach Luxemburg, nach Österreich, nach Portugal. Ich musste einfach weitermachen, bis ich gefasst wurde. Ich wusste, dass das das Ergebnis sein würde. Eines Tages würde man mich fassen, mir den Prozess machen, mich einsperren. Anders konnte es nicht sein. Aber ich durfte es den Behörden nicht zu leicht machen, ich durfte nicht darauf hinarbeiten. Ich musste ehrlich spielen, mein Bestes geben.

Damals begannen die Leute in die Studios zu laufen und zu verlangen: „Mach mir auch sowas!“ Das ist sicher der Satz, den ein Tätowierer am häufigsten hört: „Mach mir auch sowas!“

Viele haben natürlich Angst gehabt, dass man sie dann für den Tätowierer halten wird, oder sie haben abgelehnt, weil sie den Stil nicht verstanden haben. Aber einige hatten instinktiv begriffen, worum es mir gegangen war, und haben ihren Kunden gesagt: „Ich mach dir was, aber du musst dich mir ausliefern, du musst mir vertrauen, und es wird ganz anders aussehen, weil ich ich bin und nicht der.“ Aber das wollten die Kunden nicht, die wollten nicht an einem Kunstwerk teilhaben, die wollten einfach nur so aussehen, als ob sie bei mir in Gefangenschaft gewesen wären. Das war das Eklige, es sind dann wirklich diese Imitationen rumgelaufen, manche direkt von den Polizeifotos oder den Illustriertenfotos runterkopiert.

Und da haben dann Diane Waterhouse und Franco Caselli eingegriffen und haben die erste Ausstellung organisiert, mit Vergrößerungen der Fotos und mit Live-Auftritten. Von den 12 echten Arbeiten von mir, die es damals schon gegeben hat, waren sieben bereit teilzunehmen. Und sie haben den ganzen Vorgang sehr klug analysiert, haben eine echte Interpretation meiner Kunst gegeben. Ich bin ja an sich kein Freund der Kunstinterpretation. Wenn das Kunstwerk nicht unmittelbar wirkt, dann hilft auch die Interpretation nicht. Das ist so wie bei einem Witz. Wenn man ihn nicht versteht und man kriegt ihn erklärt, dann lacht man trotzdem nicht mehr darüber. Aber hier war das notwendig, wegen der vielen Imitationen, die in Umlauf gekommen sind. Und da war viel meinen Zielpersonen zu danken. Waterhouse hat sehr einfühlsam mit ihnen gesprochen. In den Talkshows, da wurden sie ja immer nur nach dem Sensationellen gefragt, wie war der Überfall, wie war die Gefangenschaft, haben sie Angst gehabt. Waterhouse ist auf den künstlerischen Prozess eingegangen. Die Menschen haben dann berichet, was sie auf ihrer Haut erlebt haben, sie haben wirklich diese Körpererlebnisse geschildert, die sich ja eigentlich gar nicht in Worte fassen lassen, außer in so plumpe, dass es halt wehgetan hat. Das ist das Verdienst von Waterhouse, dass sie das aus ihnen herausgeholt hat. Für mich war das erschütternd. Ich habe nur den Film gesehen, der damals gedreht wurde, ich war nicht dort. Es war ja klar, dass man alle, die da hinkommen, genau unter die Lupe nehmen würde, von der Polizei her. Ich bin nicht hingegangen, aus Vorsicht, aber alle haben angenommen, dass ich doch sicher im Publikum sein werde, und ich habe das dann im Film gesehen, dass meine Ziepersonen manchmal solche Seitenblicke ins Publikum geworfen haben, als wollten sie sich von mir, der dort irgendwo unerkannt sein würde, eine Bestätigung holen. Für mich war das wirklich erschütternd.

Es ist dann in der Kunstwelt eine große und ernsthafte Debatte gelaufen, ob das korrekt war, was Waterhouse gemacht hat, ob es erlaubt ist, das, was ich mache, als Kunstwerk zu diskutieren. Waterhouse und Caselli haben natürlich nie den kriminellen Aspekt verleugnet oder heruntergespielt, aber sie haben betont, dass es eben trotz allem Kunst sei und auch unter diesem Blickwinkel betrachtet werden müsse. Andere haben gesagt, man darf einfach nicht Menschen zu Objekten degradieren, man darf nicht einfach einen Menschen so behandeln, als ob er nur eine aufgespannte Leinwand wäre. Dem haben sie entgegnet, dass ich das ja nicht tue, dass ich mich ja intensiv mit meinen Zielpersonen auseinandersetze, und dass das in der Arbeit ja auch sichtbar werde, und meine Zielpersonen haben das auch bestätigt. Und sie haben auch gesagt, dass der kriminelle Aspekt untrenntbar mit dem künstlerischen verbunden sei, dass das Kunstwerk wegen der kriminellen Art seiner Entstehung ein ganz anderes Kunstwerk sei als wenn es von vornherein im gegenseitigen Einverständnis entstanden wäre.

F: Dass das Kunstwerk so eine ganz andere Aussage bekommt?

A: Diesen Ausdruck haben sie zum Glück nie gebraucht. Ein Kunstwerk hat keine Aussage, die man von ihm abtrennen kann. Ein Kunstwerk ist. Einen Dichter hat man einmal, nachdem er ein ziemlich langes Gedicht rezitiert hat, gefragt, was er mit dem Gedicht sagten wollte. Er hat darauf geantwortet: „Was ich mit diesem Gedicht sagen will, ist folgendes:“ und dann hat er das Gedicht noch einmal rezitiert. Und als er dann später diese Anekdote erzählt hat, hat er hinzugefügt: „Und dabei hat es gar nicht gestimmt. Denn beim zweiten Mal war es schon ein ganz anderes Gedicht.“ Es war derselbe Text, aber ein anderes Gedicht.

Und Waterhouse hat auch ganz klar herausgearbeitet, dass es bei meinen Kunstwerken primäre und sekundäre Empfänger gibt. Dass die primären Empfänger eben meine Zielpersonen seien, die an der Entstehung unmittelbar beteiligt seien. Diejenigen aber, die hinterher das Tattoo sehen, seien sekundäre Empfänger, die ein ganz anderes Kunstwerk erleben, oder besser einen ganz anderen Aspekt des Kunstwerks. Sie hat gemeint, der Unterschied sei ungefähr so, wie wenn ein Komponist für einen Monarchen ganz allein die Uraufführung einer Oper veranstalten und der Monarch dann später seinen Freunden und Bekannten die Arien vorpfeifen würde. Und sie hat auch klargemacht, dass das Kunstwerk eben nicht an der Hautoberfläche endet, sondern dass alles dazu gehört, die Arbeit der Polizei, die Berichte der Medien, die Angst, die sich verbreitet hat, vor allem am Anfang, diese generelle Verunsicherung, aber auch dann eben die Nachahmung, die plötzliche Geilheit der Leute, selbst als Opfer des Tätowierers dazustehen. All das, sagte sie, können man nicht von den Bildern auf der Haut trennen, und ohne das wären die Bilder auf der Haut etwas ganz anderes, als was sie jetzt seien.

F: Wurden Sie an den Einspielergebnissen der Ausstellung und des Films beteiligt?

A: Nein, ich habe nie einen Groschen davon gesehen. Ich habe auch keine Forderungen gestellt, ich hätte das kaum einklagen können. Die juristischen Implikationen wären freilich hoch interessant gewesen, allein schon die Frage, wer nun eigentlich die Rechte an der Wiedergabe und Vervielfältigung des Werks habe. Ich glaube, es wurde sogar eine juristische Dissertation über den Fall geschrieben, von der Urheberrechtsseite her, aber ich habe sie nicht gelesen.

F: Die Ausstellung hatte aber noch Folgen.

A: Ja, die Ausstellung hatte Folgen. Jetzt traten tatsächlich Nachahmer auf den Plan, die sich meine Methode zu eigen gemacht hatten, zumindest äußerlich. Es waren auch einige wirkliche Künstler darunter, Marcel Gummer zum Beispiel, der leider sehr schnell gefasst wurde, oder Patrick M., den man bis heute nicht erwischt hat, oder Serafine, die auch immer noch auf freiem Fuß ist. Aber es es waren auch einige brutale Nichtskönner dabei, echte Trittbrettfahrer, die nur darauf aus waren, die Leute zu schocken und zu quälen. Und manche haben dann noch Geld verlangt. Die haben tatsächlich ihre Opfer hinterher angerufen und gesagt: „He, du bist jetzt ein Kunstwerk, was zahlst du dafür?“ Natürlich haben die nichts gekriegt, und viele sind auch deswegen erwischt worden. So hat das ganze bald wieder abgenommen, weil es im Grunde ja sehr riskant ist, sehr viel Arbeit macht und nichts einbringt.

F: Sie haben allerdings noch andere Nachahmer gefunden, die bis heute tätig sind.

A: Ja, das ist leider richtig. Indirekt geht das wohl auf mein Konto. Bei gewissen Jugendbanden ist das eine Mode geworden, das Branding. Man überfällt irgend jemanden, reißt ihm die Kleider vom Leib und drückt ihm ein Brandzeichen auf. Dann lässt man die Person wieder laufen. Hier geht es aber nicht um Kunst. Das sind reine Machtdemonstrationen. Welche Bande ist stärker, welche Bande kann mehr Menschen ihr Siegel aufdrücken. Die betrachten diese Menschen dann als ihr Eigentum, als ihre Herde. Sie veröffentlichen sogar Bulletins auf ihren Webseiten: Unsere Herde zählt schon 35 Stück, wieviel zählt eure? Die haben sich das zu eigen gemacht und es auf ihre Art abgewandelt, so dass es schnell geht, direkt auf der Straße, die machen die Brandeisen direkt auf der Straße heiß, mit einer Lötlampe. Aber das andere, das was ich gemacht habe, das geduldige, einfühlsame Tätowieren, das ist abgekommen, weil es eben nichts einbringt.

F: Ihnen hat es aber auf die Dauer doch etwas eingebracht.

A: Ja, weil ich der erste war, weil ich konsequent war, und weil ich gut bin. Wenn ich nicht gut wäre, wäre alles nur ein Publicitygag und man hätte mich schnell vergessen.

F: Sind Sie sich dessen sicher?

A: Nein. Ich sage das, weil ich es glauben muss. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass auch ein Scharlatan mit meiner Methode hätte Erfolg haben können. Nämlich dauerhaften Erfolg, der auch zehn Jahre später noch anhält. Das wäre schrecklich. Das würde ich nicht aushalten.

 

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