Ein unsichtbares Denkmal für Anny Wödl

Podcast
Nachttaxi
  • Ein unsichtbares Denkmal für Anny Wödl
    57:00
audio
57:00 min
Hurentaxi - Vom Leben der Callgirls - Folge 6
audio
57:00 min
Hurentaxi - Vom Leben der Callgirls - Folge 5
audio
56:59 min
Hurentaxi - Folge 4
audio
57:00 min
Stadt der Fremden: Folge 9 (Schluss)
audio
57:00 min
Stadt der Fremden: Folge 8
audio
56:53 min
Stadt der Fremden: Folge 7
audio
56:59 min
Stadt der Fremden: Folge 6
audio
57:00 min
Hurentaxi - Aus dem Leben der Callgirls - Folge 3
audio
57:00 min
Hurentaxi - Aus dem Leben der Callgirls - Folge 2
audio
57:01 min
Hurentaxi - Aus dem Leben der Callgirls

Ein Gang durch den Universitätscampus altes AKH.
Anny Wödl war von 1939 bis 1942 Aushilfs­kranken­schwester im Militärlazarett im allgemeinen Krankenhaus. Sie hat vergeblich versucht, ihr Kind vor der Nazi-Euthanasie zu retten.

Text:
Beginn bei der Aula des Universitätscampus
Musik: „Two“ von Marcel Pequel
Universitätsbräuhaus
Stimmen:

Hier fehlt ein Denkmal.

Was kann ich als Einzelner denn schon tun?

Aber sterben muss das Kind, hat er gesagt.

Ein Denkmal? Hier gibt es so viele Denkmäler!

Was kann ich als Einzelner denn schon tun?

Was soll ich machen, ich brauche den Job.

Aber sterben muss das Kind, hat er gesagt.

Sie sind im Kriegseinsatz, sie müssen arbeiten.

Hier fehlt ein Denkmal.
Abzweigung
Was denn für ein Denkmal?

Ein Denkmal für Anny Wödl.

Wer war Anny Wödl?

Sie hat hier gearbeitet. Im Zweiten Weltkrieg. Als das noch ein Krankenhaus war.

Ja, hier waren viele große Ärzte tätig. Semmelweis, Billroth, Wagner-Jauregg, Landsteiner, der die Blutgruppen entdeckt hat. Hat sie etwas entdeckt?

Nein.

War sie eine Ärztin?

Sie war Aushilfskrankenschwester. Im Militärlazarett.

Und was hat sie getan? Hat sie sich aufgeopfert für die Verwundeten?

Ich nehme an, sie hat getan, was zu tun war.

Aber wofür das Denkmal? Hat sie Menschenleben gerettet?

Sie hat es versucht.

Ist es ihr gelungen?

Nein.
Beim Denkmal für Theodor Billroth

Kommen Sie, suchen wir einen Platz für das Denkmal. Wo soll es hin?

Da, das Denkmal für Theodor Billroth. Ein großartiger Chirurg. 1871 erste Ösophagektomie (Entfernung der Speiseröhre), 1873 erste Laryngektomie (Entfernung des Kehlkopfs). Erste erfolgreiche Magenresektion am 29. Jänner 1881 bei einer Magenkrebspatientin. „Reinlichkeit bis zur Ausschweifung!“ hat er verlangt. Deshalb sind ihm auch nicht so viele Patienten gestorben wie anderen. Ein großartiger Chirurg.

Und ein großartiger Lehrer. Nur gegen Juden hat er etwas gehabt. Es waren ihm zu viele „hosenverkaufenden Jünglinge aus Tarnopol“ in den Hörsälen. Er hat ein Buch über Universitätsdidaktik geschrieben: „Über das Lehren und Lernen der medicinischen Wissenschaften an den Universitäten der deutschen Nation“ Da steht ein kleienr Absatz darin: In der „mit den verschiedensten nationalen Elementen überfüllten Weltstadt Wien“ hat es ihm zu viele „schlimme galizische und ungarische jüdische Elemente“ gegeben. Als das Buch erschienen ist, haben ihn die deutschnationale Studenten mit Hochrufen empfangen und ihre jüdischen Kollegen aus dem Hörsaal geprügelt.

Denkmäler erzählen zu wenig. Man geht vorbei und denkt sich: „Aha, ein großer Mann“. Billroth hat sich nach den Krawallen der Deutschnationalen gewundert, dass ein kurzer Absatz in einem fünfhundert Seiten starken Buch eine solche Affäre auslösen konnte. „Es kommt mir so vor, als wenn die ungarischen galizischen Juden stark degeneriert sind und in manchen Gegenden einer gewissen geistigen und körperlichen Verkommenheit entgegengehen. … Man vergißt oft ganz, daß die Juden eine scharf ausgeprägte Nation sind, und daß ein Jude ebensowenig wie ein Perser, oder ein Franzose oder Neuseeländer, oder Afrikaner je ein Deutscher werden kann; was man jüdische Deutsche heißt, sind eben nur zufällig deutsch redende, zufällig in Deutschland erzogene Juden, selbst wenn sie schöner und besser in deutscher Sprache dichten und denken, als manche Germanen reinsten Wassers.“

Er hat also zu den ersten gehört, die die Juden nicht wegen ihrer Religion oder ihrer Kultur, sondern wegen ihrer Rasse ausgegrenzt haben. Später hat er versucht, das alles wieder abzumildern und ist sogar einem Verein zur Abwehr des Antisemitismus beigetreten. Aber das alles sieht man dem Denkmal nicht an.
Rast
Setzen wir uns ein bisschen ins Gras.

Anny Wödl. Sie ist 1902 in Gutenstein geboren worden. Sieben Klassen Volksschule. Was sie dann gelernt hat und wo sie gearbeitet hat, bevor sie ins Allgemeine Krankenhaus gekommen ist, weiß man nicht genau. Irgendwelche Bürotätigkeiten. Ein Bild? Wie sie ausgesehen hat, wollen sie wissen? Ja, es gibt ein Foto von ihr. Sie hält ihr Kind auf dem Schoß, ihren Buben, den Alfred. Der Bub schaut in die Kamera, wie halt ein braves Kind, dem man gesagt hat, es soll dort hin schauen, wo gleich das Vogerl herauskommt. Und sie lacht den Buben an, wie man halt ein Kind anlacht, damit es sich vor dem Fotografen nicht fürchtet. Darum ist von ihrem Gesicht nicht viel zu sehen, weil sie es dem Buben zuwendet. Eine hohe Stirn, dunkle Augenbrauen, volles gewelltes Haar… Das Foto ist an einem sonnigen Tag im Freien aufgenommen worden.

Der Bub, der Alexander, war behindert. „Ich habe am 24. November1934 einen Knaben geboren, der mit dem Gehen und auch mit dem Sprechen Schwierigkeiten hatte, als er gehen und sprechen sollte. Es stellte sich schließlich heraus, dass er zwar alles verstand, dass er aber nicht sprechen konnte. Auch waren seine Beine offenbar zu schwach, um ihn zu tragen, sodass er soviel wie nicht gehen konnte. Woran er eigentlich litt und was die Ursache seines Zustandes war, konnten die Ärzte eigentlich nicht feststellen. Mit vier Jahren gab ich ihn in die Anstalt nach Gugging“. Das hat sie 1946 vor Gericht zu Protokoll gegeben.

Sie ahnen schon, worauf die Geschichte hinausläuft. Ja, mir macht es auch kein Vergnügen. Freunde oder Freundinnen, auch sehr enge, fragen mich manchmal: „Warum tust du dir das an? Warum setzt du dich dem immer wieder aus, wenn es dich so mitnimmt?“ Sie müssen wissen: Ich bin zur Hälfte Nichtjude. Meine Großeltern sind in Treblinka ermordet worden. Und ich muss sagen, je älter ich werde, um so mehr nimmt es mich psychisch mit. Als Junger war das für mich Geschichte. Heute nehme ich es persönlich. Und ich sage dann: „Weil wir es verstehen müssen. Wenn wir es nicht verstehen, kommt es wieder.“

Anny Wödl hatte eine Bekannte, die einen Sohn am Steinhof hatte. Und eines Tages war der Sohn verschwunden. Kein Arzt, keine Schwester wollte ihr sagen, was mit dem Kind passiert war. Kriegsbedingte Maßnahmen hat man gemurmelt. Etwas von Erholung an der Ostsee genuschelt. Und ein paar Wochen später dann die Nachricht vom plötzlichen Tod des Kindes. Die Mutter hat Aufklärung von den Ärzten am Steinhof verlangt, andere Mütter auch. Die Frauen haben die Tore belagert und den Besuchern erzählt, dass ihre Kinder weg waren. Anny Wödl hat das alles nicht glauben wollen und ist selber hinausgefahren: Polizei hat die Tore bewacht, davor eine Menge von Menschen, die nicht gewusst haben, ob ihre Angehörigen noch leben. Graue Busse sind um Mitternacht vorgefahren, hat man sich erzählt, ganze Abteilungen sind geweckt worden, in die Busse verfrachtet und zum Bahnhof gebracht worden. In weniger als drei Monaten haben mehr als tausend Angehörige diese Todesnachrichten bekommen. Anny Wödl hat sich mit ein paar Angehörigen von Steinhofpatienten getroffen. Sie hat sich Sorgen gemacht um ihr Kind. Alle waren sich einig: Hier kann man nichts erreichen, man muss nach Berlin fahren. Aber wer? Wer traut sich? Also hat sie sich getraut. Am 23. Juli 1940 kommt sie nach Berlin und geht direkt zur Reichskanzlei. Die ist eine Festung. Polizei und SS bewachen die Tore. Wie kommt man da hinein? Der Kellner im Café gegenüber sagt ihr: Ohne schriftliche Einladung kommt man da nicht einmal bis zum Portier. Sie wartet den ganzen Tag. Und ist am nächsten Tag wieder da. Da kommt ein Möbeltransport an, irgendwie schlüpft sie da mit hinein. Am Empfang bettelt und weint sie und droht mit einem Skandal. Schließlich kann sie mit zwei Herren in Zivil reden. Die drohen ihr mit Verhaftung, aber sie macht ihnen weis, dass, wenn sie nicht zurückkommt, am nächsten Tag fünfhundert Wienerinnen vor der Tür stehen würden. Schließlich schickt man sie zu einem Dr. Linden ins Innenministerium.

Der Dr. Linden, das war einer der obersten Planer der Krankenmorde. Letztlich ist es darum gegangen, Platz zu schaffen für verwundete Soldaten. Kapazitäten von Ärzten und Pflegepersonal frei zu machen. Die Soldaten brauchte man noch. Die Geisteskranken, die Behinderten, die kranken Kinder, die hat man mit Spritzen umgebracht, oder man hat sie verhungern lassen oder mit Kohlenmonoxid vergast. Das war schon die Probe für die Judenvernichtung. Ja, es gehört schon eine menschenverachtende Gesinnung dazu, so etwas zu planen und durchzuführen. Aber die Menschenverachtung allein, die genügt noch nicht. Das waren eben kriegsbedingte Maßnahmen. Ganz handfeste Erfordernisse. Natürlich fragt man sich: Wie können Ärzte so etwas tun, was muss man für ein Charakter sein, um zu so etwas fähig zu sein? Aber die eigentliche Frage ist, unter welchen Umständen kommen solche Charaktere an Machtpositionen? Letztendlich hat sich alles um den Krieg gedreht. Schauen Sie, da vorne, da ist ein Denkmal für die im Weltkrieg gefallenen Ärzte. Sehen wir uns das einmal an.
Denkmal für die im Weltkrieg gefallenen Ärzte
Letztendlich hat sich alles um den Krieg gedreht. Mir geht da eine Zahl nicht aus dem Kopf. Die hat ein Vorgänger von Hitler als Reichskanzler ausgerechnet, der Friedensnobelpreisträger Stresemann. Der hat schon im ersten Weltkrieg berechnet, dass Deutschland einen gesicherten inneren Markt von 150 Millionen Menschen braucht, um mit den USA konkurrieren zu können. Warum hat Ford seine Autos so günstig herstellen können? Weil er einen riesigen Absatzmarkt hatte und also in riesigen Stückzahlen produzieren konnte. So hat er riesige Gewinne gemacht die er wieder investieren konnte und dadurch war er der Konkurrenz immer voraus. Ja, wenn man die Vorherrschaft auf dem Weltmarkt anstrebt, dann braucht man zuerst einen gesicherten inneren Markt, den man auch politisch beherrscht. Das ist eigentlich ganz logisch und leicht zu verstehen.

Bei dem Dr. Linden hat Anny Wödl nichts erreicht. Man kann für Wien keine Ausnahme machen, hat er ihr gesagt. Im Jänner dann, Jänner 1941, erfährt sie von einer Krankenschwester, dass ihr eigener Sohn für einen Transport vorgesehen ist. Sie fährt noch in derselben Nach nach Berlin. Und geht wieder zu Dr. Linden. «Schauen Sie, was wollen Sie mit einem behinderten Kind?»

«Das ist meine Sache, ich will mein Kind zurück haben».

«Nein, das kriegen Sie nicht. Erstens sind Sie im Kriegseinsatz, wer pflegt das Kind und zweitens, Sie müssen arbeiten»

«Wenn das Kind schon sterben muss, dann doch wenigstens in seinem Bett»

«Also, den Wunsch können wir Ihnen ausnahmsweise erfüllen. Wir lassen das Kind von Gugging auf den Spiegelgrund bringen, aber sterben muss das Kind».

Im Februar bekommt sie eine Postkarte: Ihr Kind ist auf den Spiegelgrund verlegt worden. Sie geht zum Leiter, dem Dr. Jekelius. Der hat ein Gutachten angefertigt: „Das Kind ist Halbjude“.

Jetzt weiß sie, dass der Alfred verloren ist.

„Daher wollte ich nur noch eines verhindern, nämlich dass das Kind irgendwohin verschleppt würde. Ich wollte dem Kind, wenn es schon sterben musste, jede weitere Qual ersparen. Daraus, aus diesen Beweggründen habe ich Dr. Jekelius gebeten, wenn schon der Tod meines Kindes nicht verhindert werden könnte, es schnell und schmerzlos zu machen. Das hat er mir versprochen. Ob er selbst dann diese Tat durchgeführt hat, oder ob er sie durch jemanden durchführen ließ und auf welche Art, habe ich nie erfahren“.

Das hat sie vor Gericht zu Protokoll gegeben. Ja, sie hat 1946 vor Gericht ausgesagt, im Prozess gegen Dr. Illing, den Nachfolger von Jekelius. Der Illing ist dann gehängt worden. Jekelius ist von den Russen gefangengenommen worden, als er 1945 fliehen wollte. Er ist im Arbeitslager gestorben. Man hat ein Geständnis von ihm gefunden.

„… Man stellte Listen über die betreffenden Kinder zusammen und schickte sie mir zur unmittelbaren Ausführung. Ich wiederum habe diese Listen an Dr. Gross übergeben, der dann die Tötung der Kinder mittels Verabreichung von Luminal vornahm. […] Die Methodik zur Tötung von Kindern durch die Verabreichung von Luminal war vom Direktor der „Herden“-Klinik für Geisteskranke in der Provinz Brandenburg, Heinze, erarbeitet worden. Vor seiner Ankunft in Wien hatte mein Gehilfe Dr. Gross einen praktischen Lehrgang zur Tötung von Kindern bei dem genannten Heinze absolviert. Die Tötung der Kinder nahm er auf der Grundlage seiner Erfahrungen und Instruktionen vor. Nach der Einführung von Luminal (über den After) in den Organismus des Kindes schlief dieses sofort und befand sich über 20-24 Stunden in diesem Zustand. Anschließend trat zwangsläufig der Tod ein.“

Der Dr. Gross, der hat nach dem Krieg weiter geforscht an den Hirnen der ermordeten Kinder und hat dafür Wissenschaftspreise bekommen und ist mit Ehrungen überhäuft alt geworden. Und als man ihm endlich doch den Prozess machen wollte, da hat er sich von Gutachtern Demenz bescheinigen lassen.

Gehen wir ein Stück weiter. Im nächsten Hof, da steht ein Denkmal von Joseph II.

Ist das nicht ein schöner stiller Park? Aber da draußen, vor den Toren, da tobt der Verkehr und jeden Abend gibt es Stau. Jeder, der noch schnell versucht, über die Kreuzung zu kommen , wenn die Ampel schon blinkt, und dann steckenbleibt und den Querverkehr blockiert, ist mit Schuld an dem Stau. Aber wer nicht drängelt, wer nicht, wo es geht, seinen Vorteil wahrnimmt um ein paar Sekunden herauszuschinden, der bleibt zurück. Und was wollen denn die Leute? Die wollen ja nichts Böses. Die wollen nur nach Hause zu ihren Familien, die wollen nur endlich vor dem Fernseher sitzen und ein Bier trinken oder sie müssen für ihre Kinder das Nachtmahl kochen. All diese Leute, die wollen sicher keinen Stau. Aber sie machen den Stau.

Beim Denkmal für Joseph II.

Hier, Joseph II. Er hat das Krankenhaus gegründet. Unter ihm hat es ein paar Jahre Pressefreiheit gegeben in Österreich. Und die Leute haben das nach Kräften ausgenützt. Überall ist gelesen und diskutiert worden. Unter Kaiser Franz war das dann wieder vorbei. Der hat gewusst, wie gefährlich Informationsfreiheit und Debattierklubs sind.

Wissen Sie, es ist so leicht, mitschuldig zu werden. Oder sagen wir zum Mitverursacher zu werden, lassen wir die moralischen Urteile kurz einmal weg. Ich versuche mich da einmal in eine Krankenschwester am Steinhof hineinzuversetzen. Ja, sie hat auch Kinder, sie hat auch eine Familie zu versorgen, sie braucht den Job. Sie alle brauchen ihren Job. Die Lehrer und Lehrerinnen, die Rassenkunde unterrichten. Na ja, wer weiß, ob das alles so wissenschaftlich haltbar ist. Aber ich brauche den Job. Die Ingenieure, die die Kampfflugzeuge entwickeln. Ich bin nur Techniker, ich sage den Piloten ja nicht, wo sie hinfliegen sollen. Und ich brauche den Job. Die Schaffnerin, die die Frau mit dem gelben Stern nicht in die Straßenbahn einsteigen lässt. Ich hab ja nichts gegen die Juden, die Frau tut mir ja leid. Aber was soll ich machen, ich brauche den Job. Und die Krankenschwester? Ja, sie ahnt etwas, etwas ist nicht geheuer. Aber das ist Angelegenheit von denen da oben. Was kann sie schon tun? Und vielleicht bildet sie sich das alles nur ein, so schreckliche Sachen, die kann doch niemand wirklich wollen, oder? Und was kann sie als Einzelne denn schon tun?

Und das ist es ja. Ich als Einzelner kann gar nichts tun. Ich verliere nur meinen Job oder meine Aussicht auf Beförderung, ich komme vielleicht ins Gefängnis oder ins KZ, ich muss leiden, meine Familie muss leiden, und niemandem ist geholfen. Und es stimmt, für jede Einzelne stimmt es, für jeden Einzelnen stimmt es. Es ist keine faule Ausrede, es stimmt. Ich als Einzelner kann den Klimawandel nicht aufhalten. Es wäre sinnlos, auf mein Auto zu verzichten, den Unterschied im CO2-Gehalt der Atmosphäre kann kein noch so feines Instrument messen. Ich als Einzelner kann die Arbeitsbedingungen in den chinesischen Schuhfabriken nicht ändern. Wenn ich die billigen Schuhe nicht kaufe, tut das niemandem weh. Ich als Einzelner kann nichts gegen die Tierfabriken unternehmen. Wenn ich das billige Schnitzel nicht kaufe, werden die Fleischfabrikanten deswegen kein bisschen ärmer. Und Biofleisch kann ich mir nicht leisten.

Darum müssen Diktaturen ja verhindern, dass die Leute zusammenkommen, dass sie miteinander reden, dass sie merken, sie stehen nicht allein da mit ihren Ansichten. Darum dürfen Soldaten nicht wissen, wohin sie in Marsch gesetzt werden, welchen Sinn die Befehle haben, die sie befolgen müssen. Jeder einzelne Soldat muss Angst davor haben, bestraft zu werden, wenn er die Befehle nicht befolgt. Jeder Soldat muss Angst vor seinem Offizier haben. Jeder Soldat muss annehmen, wenn ich meutere, werden meine Kameraden die Befehle des Offiziers befolgen und mich verhaften. Und wenn unsere ganze Kompanie meutert? Dann werden die anderen Kompanien den Befehl bekommen, uns zu verhaften. Und wenn alle Kompanien meutern? Ja, wie sollen wir zu denen Kontakt aufnehmen, wie sollen wir uns verabreden? Sobald wir versuchen, die anderen zum Widerstand aufzufordern, werden wir doch schon vors Kriegsgericht gestellt. Und dann: Dann ist da noch der Feind. Der beste Verbündete der Generäle, um die Disziplin aufrechtzuerhalten, ist der Feind. Wenn wir den Befehlen nicht gehorchen, wenn wir nicht kämpfen, dann wird der Feind uns umbringen, unser Land erobern, unsere Frauen vergewaltigen. Wir können nicht meutern, solange der Feind uns bekämpft. Wir müssten uns erst mit den feindlichen Soldaten einigen, und wie sollen wir mit denen Kontakt aufnehmen? Und so kann es sein, dass der Krieg auch dann noch weitergeht, wenn der Großteil der Soldaten auf beiden Seiten den Krieg gar nicht will.

Worauf ich hinauswill?

Es gibt für große Gruppen von Menschen Situationen, wo alle eine Nutzen davon hätten, wenn alle ihr Verhalten ändern würden. Es kann sogar sein, dass alle wissen, dass es für alle besser wäre, wenn alle ihr Verhalten ändern würden. Und doch ändert keiner sein Verhalten. Denn für den Einzelnen verschlechtert sich seine Lage, wenn er alleine sein Verhalten ändert.

Wenn alle Soldaten die Waffen niederlegen würden, würde keiner mehr erschossen, verwundet, verstümmelt werden. Wenn ein Einzelner die Waffen niederlegt, wird er als Deserteur vors Kriegsgericht gestellt und hingerichtet.

Wenn alle diszipliniert fahren würden, gäbe es weniger Stau und alle kämen früher nach Hause. Wenn ein Einzelner sich an alle Regeln hält, kommt er später nach Hause als die anderen.

Da drüben, an der Wand, da ist eine Gedenktafel für Ferdinand Ritter von Hebra. Den Vater der Dermatologie. Er hat auch das Wasserbett entwickelt. Hier, in diesem Gebäude muss die Wasserbettenabteilung gewesen sein, wo Anny Wödl gearbeitet hat. Wo die Soldaten mit Verbrennungen und Erfrierungen wieder frontdiensttauglich gemacht wurden.
Beim Denkmal für Ferdinand Ritter von Hebra
Drei Monate, nachdem man ihr Kind umgebracht hat, hat Anny Wödl den Diensteid auf Adolf Hitler schwören müssen: «Ich gelobe: Ich werde dem Führer des Deutschen Reichs und Volkes Adolf Hitler treu und gehorsam sein und meine Dienstobliegenheiten gewissenhaft und uneigennützig erfüllen». Wie sie das über sich gebracht hat, wissen wir nicht. Ein Dreivierteljahr später ist sie entlassen worden: Eine von der Direktion des Allgemeinen Krankenhauses angeordnete ärztliche Untersuchung kam in ihrem Gutachten zu dem Befund, „… dass bei der Wödl eine hochgradige Neurose bestehe, die eine ersprießliche Dienstleistung nicht erwarten lasse und die Lösung des Dienstverhältnisses unter Nachsicht der Kündigungsfrist zu empfehlen wäre“. Was dann mit ihr war, davon wissen wir nicht viel. 1946 hat sie in dem Prozess ausgesagt. 1984 hat sie ein Dokumentarfilmer noch einmal interviewt. 1996 hat man sie tot in ihrer Wohnung aufgefunden.

Gehen wir ein paar Schritte zurück. Zu diesem japanischen Garten. Vielleicht geht ja etwas Ruhe von ihm aus. Vielleicht kann hier auch unser Denkmal für Anny Wödl seinen Platz finden. Es ist ja unsichtbar.

Beim japanischen Garten

Welches Schlaflied sollen wir dir singen?
Welchen Baum soll dir das Christkind bringen?
Welches Märchen solln wir dir erzählen?
Wie dich trösten, wenn dich Träume quälen?

Welches Schlaflied sollen wir euch singen?
Welchen Baum soll euch das Christkind bringen?
Welche Märchen solln wir euch erzählen?
Wie euch trösten, wenn euch Träume quälen?

Welches Schlaflied sollen wir uns singen?
Welches Licht kann uns ein Christkind bringen?
Welches Märchen solln wir uns erzählen?
Wie uns trösten, wenn uns Träume quälen?

Playlist:

Martin Auer Ein unsichtbares Denkmal für Anny Wödl BY-NC-SA
Marcel Pequel Two BY-NC-SA
Keijo All the Time BY-NC-SA
Rebecca Foon White Throated Sparrow BY-NC-ND
Borromeo String Qzartet W.A. Mozart, Streichquartett Nr. 19 BY-NC-ND
Kevin McLeod Signation BY

0 Kommentare

  1. Das ist eine berührende Geschichte.. Ich kannte Frau Anny Wödl persönlich, und ich bin mir sicher, dass sie es gut finden würde, dass ihr Sohn und sie nicht vergessen werden, aber stellen Sie bitte richtig, dass ihr Sohn Alfred hieß, nicht Alexander.

    Herzliche Grüße

    Responder

Deja un comentario