„Meine ersten fünf Jahre waren die glücklichsten meines Lebens. Mein Bruder Rolf war zwei Jahre jünger. Wir bewohnten ein herrliches Haus in guter Wohnlage. Es lag im Grünen, hatte einen großen Park an dem sich gemächlich ein kleiner Fluß entlang schlängelte. Ich erinnere mich an diese Details zwar nicht, aber meine Mutter war eine begeisterte Fotografin, und wie durch ein Wunder fand ich nach Kriegsende die Alben wieder, in der sie alle Bilde geklebt hatte. So sah ich das schöne Fachwerkhaus, von dem wir ein Stockwerk bewohnten. Am liebsten tummelten wir uns auf der Terassse, wo meine Mutter und unablässig beim Spielen und den kleinen Alltagsbeschäftigungen knipste – wie übrigen später in Brüssel.“
Dr. Hilde Spier war Philologin und Redakteurin bei der Zeitung Mode und Kultur in Köln. Gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren späteren Kindern lebte sie seit 1926 in Erfurt. Bis sie nach Inkrafttreten der sogenannten Nürnberger Rassegesetze im Jahr 1935 nach Belgien flohen. 1940 flüchtete sie mit ihren 3 Kindern weiter nach Frankreich. Dort verbrachte sie 3 Monate in einem Internierungslager, bevor sie zu Carl Ludwig Spier weiterreisen durfte, der im Lager Saint-Cyprien interniert war.
„Mein Vater lernte meine Mutter in einem Tanzkurs kennen. Sie war zwanzig, er einundzwanzig. Es war Liebe auf den ersten Blick, aber mein Großvater wollte der Verbindung nicht zustimmen, denn mein Vater befand sich noch im Studium, und damals kam es natürlich nicht in Frage, dass eine wohlsituierte junge Frau einen Mann ohne feste Stellung heiratete. So gingen nach dem Kennenlernen sieben Jahre ins Land, und da sie des Wartens überdrüssig war und sich ihr Vater nicht erweichen ließ, wollte meine Mutter ihrem Leben ein Ende setzen und schnitt sich die Pulsadern auf. Sie wurde gerettet, und mein Großvater gab endlich nach. Um meinem Vater nach Erfurt zu folgen, gab meine Mutter ihren wichtigen Posten bei der Kölner Zeitung auf und widmete sich fortan ihrem Mann und den Kindern.“
Der Kaufmann Carl Ludwig Spier wurde bereits in Brüssel von seiner Familie getrennt. Die belgische Polizei verhaftete ihn und überstellte ihn ins Internierungslager Saint-Cyprien im südlichsten Zipfel von Frankreich in den Pyrenäen. Anschließend war er in verschiedenen Lagern untergebracht, wohin ihm seine Familie stets nachreiste. Im August 1942 wagte er gemeinsam mit seiner Frau die Flucht. Es folgte die Zwangsausbürgerung aus Frankreich und die Deportation nach Auschwitz.
„Mein Vater nimmt in meinem Denken und Erinnern eine blassere Rolle ein. In Erfurt lebte ich ununterbrochen mit meiner Mutter, während mein Vater seine Tage in der Fabrik verbrachte, die er leitete. Später, in Belgiern und Frankreich, war es immer meine Mutter, die eine unerschöpfliche Energie entfaltete und unablässig arbeitete: zu Hause, an der Pflege der Kinder, an den zahllosen Briefen mit der Bitte um Unterstützung und Hilfe, die sie an Gott und die Welt adressierte. Noch spüre ich die Verstimmung, die mich erfasste, wenn mein Vater heimkam, das Radio einschaltete oder seine Zeitung las und seelenruhig auf sein Essen wartete, während meine Mutter tagaus, tagein mit unvergleichlicher Ausdauer aktiv war.
Dieses unterschiedliche Verhalten, empfand ich als schwere Ungerechtigkeit meiner Mutter gegenüber. Heute beschleicht mich das vielleicht zwiespältige und jedenfalls schuldbewusste Gefühl, meinem Vater damals sehr Unrecht getan zu haben. Aber neben meiner Mutter verschwand alles. Sie war meine ganze Welt und Wonne.
Wir waren sehr glücklich in Erfurt. Meine Eltern hatten sich mit drei Familien der Stadt angefreundet. Juden wie wir. Zwei gingen nach England ins Exil, die dritte flüchtete in das unter britischem Mandat stehende Palästina. Alle überlebten die Shoah. Da meine Mutter aber zu ihrem Bruder in Belgien wollte, ließen wir uns bei ihm nieder, und schon bald gesellte sich mein Großvater zu uns. Die Emigration nach Belgien war eine fatale Entscheidung, ein tragischer Irrtum, denn mit dem Einfall der Deutschen am 10. Mai 1940 in das Land war unser Schicksal besiegelt.“
So erinnert sich Marianne Spier-Donati in dem Buch „Rückkehr nach Erfurt“ von Olga Tarcali an ihre Eltern. Hilde und Carl Ludwig sahen ihre Kinder nach der Ausbürgerung aus Frankreich nicht wieder. Hilde Spiers Spur endet im Convoi Nr. 27 nach Auschwitz. Carl Ludwig starb nach einer Odyssee durch verschiedene Lager auf dem Todesmarsch nach Buchenwald am 1. Februar 1945.
Zitate aus “Rückkehr nach Erfurt. Erinnerungen an eine zerstörte Jugend“ von Olga Tarcali
Redaktion: Undine Zachlot, Frank Lipschik, Johannes Smettan
Sprecher_innen: Marie Baumann, Roman Pastuschka, Johannes Smettan
Musik: Stefano Mocini – Injustice und Blancheneige Bazaar Orchestra – Meshugge