Gepflegte Herrentierwitze am Kaminfeuer des menschlichen Hochmuts
Unüberhörbar knurrt und brodelt, zischt und gluckst es in den Feuilletons. Das karnivore Verdauungssystem hat derzeit reichlich Öffentlichkeitsarbeit zu verrichten. Sein Rechtfertigungsdruck muss mittlerweile beachtlich sein. Die beinahe schon mitleiderregende Vehemenz der Reaktionen lässt auf schwere Unverträglichkeiten schließen. Wie ließe sich anders erklären, dass Menschen, die an den industriell betriebenen Brutalitäten der Massentierhaltung Kritik üben, die eine immer noch theologisch gefärbte Mensch-Tier-Dichotomie in ihrer zwanghaften Abwertung „nur tierischen“ Leidens in Frage stellen, um sich als Konsequenz für eine fleischlose Ernährung zu entscheiden, wahlweise als esoterische Fanatiker, genussfeindliche Asketen, sexuell gehemmte Narzissten oder gar faschistoide Tugendterroristen verunglimpft werden? Das Darmhirn muss wohl sehr gereizt sein und nimmt sich auf seiner Fehlersuche bei den Fleischeskostverächtern alle kreativen Freiheiten heraus. Der Backlash aus dem Bauch heraus erfolgt nach dem Prinzip des Angriffs als beste Verteidigung, eine hinlänglich bekannte Strategie, die etwa den linken „Gutmenschen“ zum verkappten Bösen umzudeuten trachtet. Die Opfer bzw. ihre Fürsprecher werden als die eigentlichen Täter angeklagt. Die blähsüchtige Kargheit der dafür angewandten Argumentation entschuldigt wie ich meine die hier strapazierte Verdauungsmetapher.
Jüngstes Beispiel lieferte die Berichterstattung zum dritten Biologicum Almtal, das heuer unter dem Thema „Fressen und gefressen werden“ stattfand. Die Bedeutung dieses Themas in der evolutionären Entwicklung u.a. des Menschen ist ebenso nachvollziehbar evident, wie es abwegig wäre, daraus eine moralische Rechtfertigung des Fleischkonsums in der industrialisierten Gesellschaft von heute abzuleiten und sich jede aufklärerische Kritik daran zu verbitten. Stammes- und kulturgeschichtlich zu dem gemacht, was wir heute sind, haben uns wohl auch Mord und Totschlag. Es ist umso bedauerlicher, dass derlei achselzuckende Gewohnheitsrechtsansprüche, wie zumindest Zeitungsberichte („Der Standard“ vom 5.10.2016, „Die Presse“ vom 10.10.2016, „Salzburger Nachrichten“ vom 10.10.2016) nahelegen, gerade auf einer Fachtagung aus jenem Bereich erhoben wurden, in dem das bis heute für die eigene psychische Entlastung nur zu gut brauchbare kartesianische Fehlurteil, Tiere wären nichts anderes als seelenlose Maschinen, durch immer neue experimentelle Nachweise der kognitiven Fähigkeiten und des komplexen Sozialverhaltens anderer Tierarten in ein immer peinlicheres Licht gerückt wird. Man würde sich einen vergleichenden Verhaltenswissenschaftler wünschen, der etwa Schweine und Wildschweine ebenso empathiefördernd wie öffentlichkeitswirksam beforscht, wie Kurt Kotrschal das für Hunde und Wölfe leistet. Doch daran besteht aus naheliegenden Gründen kein Interesse.
Offenbar war niemand ins Almtal eingeladen worden, der eine allzu kritische Sichtweise auf das vertrat, was Menschen heute ihren Nutztieren antun, und so sprach auch nichts dagegen, von diesen „abwesenden Referenten“ (Carol J. Adams) unbehelligt, in gemütlicher Runde gepflegte Herrentierwitze am Kaminfeuer des Hochmuts auszutauschen. Mit der Nonchalance des selbstbewussten Primaten wurde der moralische Unterschied zwischen Hunden und Schweinen damit erklärt, dass wir uns erstere eben als unsere „Companion Animals“ ausgesucht hätten. Und, um alle Unklarheiten auszuräumen, hinzugefügt, dass, wenn Vermeidung von Leiden unser Ziel sei, wir ja gleich alle Fleischfresser ausrotten müssten. Also dass wohl, solange nicht alle Löwen, Turmfalken, Kaimane usw. zum Schutz der Beutetiere von uns erschossen worden sind, logischerweise auch gegen die von uns selbst betriebene Massentierhaltung keinerlei Einwand erhoben werden darf. „Und hat nicht auch das Tollwutvirus ein Recht auf Leben?“ Abgesehen davon, dass Viren möglicherweise gar nicht zu den Lebewesen zählen: Unter den anwesenden Physiologen fand sich scheinbar niemand, der über die neuronalen Voraussetzungen eines Schmerzempfindens referieren wollte, das mitunter auch die selbsternannte Krone des Schöpfung dazu bringt, „zu brüllen wie ein Tier“. Aber weh tat das alles natürlich trotzdem, zumindest dem Zeitungsleser, und manch von seinen Nozizeptoren geplagtes Wirbeltier der Spezies Homo sapiens wäre gerne im Almtal gewesen, nur um den Forschern auch vor Ort beobachtbare aversive Reaktionen zu zeigen: die Haare raufend davonzulaufen.
Die Anwesenden blieben jedoch unter sich. Und um noch die letzten Reste von kognitiven Dissonanzen auszuräumen, die vielleicht durch das hervorgerufen werden mochten, was sich hinter Zäunen und Mauern in peripher gelegenen Arealen mit strengem Film- und Fotografierverbot abspielt, ging ein Ethiker dazu über zu erklären, dass der eigentliche Anthropozentrismus darin bestehe, den Anthropozentrismus aus tierethischer Sicht zu kritisieren. Denn dadurch würden Tiere bevorzugt, die dem Menschen nahe sind: „Menschenaffen und Hunde haben eine gute Lobby, Schnecken dagegen nicht.“ Und damit hat der Ethiker natürlich zielsicher seinen Finger auf einen wunden Punkt gelegt. Er hält sich nicht mit jenen Tieren auf, die uns zwar nahe sind, aber trotzdem keine gute Lobby haben, was sich u.a. darin zeigt, dass zwar Hunde unter Vollnarkose, Schweine aber betäubungslos kastriert werden, dass erstere auf Royal-Canin-Schmusedecken schlafen, letztere aber auf Betonspaltenböden mit dem beißenden Gestank ihrer eigenen Exkremente in den Atemwegen. Nein, ein brisanteres Thema sind natürlich die Schnecken. Richten Pflanzenköstler, die ihre Gemüsegärten gegen den Kahlfraß verteidigen, in Notwehrüberschreitung bisweilen nicht regelrechte Massaker an diesen Weichtieren an? Und tötet der Mähdrescher, der das Getreide fürs tägliche Brot einholt, nicht ohne Absicht unzählige Kleintiere? Und selbst noch den indischen Jaina-Asketen, der den Weg vor seinen Füßen mit einem Besen fegt, damit auch nicht das kleinste Lebewesen von seiner Sohle zertreten werde, könnte man mit dem dümmlich feixenden Verweis auf die antibakterielle Wirkung seines Mundspeichels in Verlegenheit zu bringen versuchen. „Wir machen uns auf jeden Fall die Hände schmutzig. Es gibt keinen Lebensstil, der unschuldig macht.“ Wohl wahr, und deshalb spricht offenbar auch nichts dagegen, die Sau gleich ganz ungehemmt rauszulassen bzw. sie massenweise in die finstersten Kerker zu sperren. Nobody’s perfect!
Ein besseres Leben hatte vermutlich das Mangalitzaschwein, dessen Speck im Almtal verköstigt wurde. Die heutigen Eliten dagegen würden, so legte ein ebenfalls beim Biologicum anwesender Philosoph des Genusses nahe, in ihrem narzisstischen Streben nach Distinktionsgewinn sogar diesen verschmähen: „Wir sind die Guten, und ihr Schweine essts noch Fleisch!“ Was hier als Verbalinjurie gemeint ist, würden die, denen sie unterstellt wird, vielleicht gar nicht als solche betrachten, aber egal: Derlei vordergründige Moralität wäre demnach, was schon ein Präsidentschaftskandidat den Unterstützern seines Gegners nachsagte, nur die eigennützige Sache einer ominösen Hautevolee. Und diese wäre eben heute nicht mehr im herrschaftlichen Jagdschloss oder beim Gänseleber-Horsd’œuvre im Goldenen Quartier, sondern eher beim Soja-Burger-Mampfen auf der Veganmania vor dem Museumsquartier zu finden, wo diese These immerhin für reichlich Gelächter sorgen dürfte. Und es gibt noch Nachschlag: „Mit dem Veganismus deklassieren die Eliten die Armen zusätzlich.“ Denn dieses „obszöne Gutsein“ ignoriere die Problemprioritäten. Auch dieses Argument kommt reichlich bekannt vor: Wenn wir uns um Ausländer kümmern, wo bleiben dann die Österreicher? Und wenn wir uns auch noch um andere Tiere kümmern, wo bleiben dann die Menschen? Gewaltverzicht ist allerdings keine knappe Ressource, die mir, wenn ich hier auf sie zurückgreife, anderswo fehlt. Ganz im Gegenteil: Das nationalistische ebenso wie das speziesistische Vorurteil ignoriert nicht nur alle rationalen Gründe für eine moralische Einbeziehung anderer, sondern übt sich mit verkniffenen Augen trotzig im Widerstand gegen jede fremdgehende Empathie, die das geschätzte Privileg, Mitglied in einem exklusiven Club zu sein, in Frage stellen könnte. Während der Philosoph noch völlig zu Recht, ohne hier lange über Problemprioritäten nachzudenken, persönliche Freiheiten wie den Tabakgenuss, dessen Risiken einen höflichen Raucher ganz allein betreffen, gegen das bevormundende Diktat einer zwänglerischen Vernunft verteidigt, gerät ihm sein Hedonismus in der Verharmlosung der Massentierhaltung zur Peinlichkeit im doppelten Sinn. Genuss kann für viele gar nicht auf Kosten anderer gehen: Der Leckerbissen bliebe ihnen, auch ohne „Schockbilder“ auf der Verpackung, bei der Vorstellung seiner Produktionsgeschichte im Halse stecken.
Der anwesende Philosoph allerdings versucht sich in einer tiefenpsychologischen Pathologisierung des Vegetarismus und diagnostiziert ihm, das „Raubtierhafte werde wie das Sexuelle als Bedrohung des Ich gefürchtet, das im Zentrum der narzisstischen Religion stehe.“ Eine Aussage, die besorgte Fragen aufwirft: Hat Pfaller zu viel Morrissey gehört? Zu viele Vampirfilme gesehen? Schleicht er sich geschmeidig wie ein Tiger im Supermarkt ans in Plastik verschweißte Schnitzel an? Verschafft ihm die Beute, die er dort macht, ein archaisches Lusterlebnis? Worum es sich bei dieser „Beute“ handelt, kann man sich anhand von heimlich gefilmtem Videomaterial aus Zucht- und Schlachtbetrieben, zuletzt etwa von jenem der französischen Tierschutzorganisation L214, auf Youtube anschauen, wenn man nicht mit dem Hinweis „Dieses Video ist möglicherweise für einige Nutzer unangemessen“ daran gehindert wird. Unangemessen sind in jedem Fall die anmutigen Werbespots der Fleischindustrie, die ihren Kunden ein für jeden empathiefähigen Augenzeugen unerträgliches Geschehen schönlügen, das alljährlich 65 Milliarden geschlachtete Tiere am eigenen Leib erfahren. Und man muss hier wohl psychologisch nicht allzu tief schürfen, um eine Verdrängungsleistung imposanten Ausmaßes festzustellen.
Schlachten und geschlachtet werden – Feldforschungsmaterial wie jenes von L214 wurde beim Biologicum im Almtal vermutlich nicht gezeigt. Es hätte dazu dienen können, das beispiellose Ausmaß an industrialisierter Gewalt gegen Nutztiere zu thematisieren und zu fragen, ob die gelehrte Definition irgendeiner anthropologischen Differenz diese Gewalt rechtfertigen kann, etwa die Fähigkeit, Bücher zu schreiben, symbolisch gespeichertes Wissen generationenübergreifend weiterzugeben, zu erweitern und – besonders wichtig! – im Lichte neuer Erkenntnisse zu revidieren, oder ob diese Gewalt nicht vielmehr grundsätzlich jenem angestrebten Selbstbild widerspricht, das der Mensch humanistisch zu nennen pflegt. Man hätte auch den unreflektierten Gebrauch des Wortes „Tier“ (Derrida prägte hier den schönen französischen Begriff „animot“) hinterfragen können, insbesondere seinen Gebrauch als gleichmacherische Gegenkategorie zum Menschen, in die fröhlich alles, was auf Erden kreucht und fleucht, geworfen wird, Schnecken und Schweine, Giraffen, Florfliegen und Delfine, und all die anderen geschätzten fünf bis 50 Millionen Spezies mit ihren per definitionem einzigartigen Besonderheiten. Und man hätte sich fragen können, ob eine der drei großen narzisstischen Kränkungen der Menschheit neben der kopernikanischen und der freudschen, die darwinsche, nach 150 Jahren vielleicht noch nicht einmal annähernd überwunden ist. Charles Darwin selbst jedenfalls erscheint progressiver als viele seiner heutigen Schüler, wenn er in „Die Abstammung des Menschen“ (1871) schreibt: „Wohlwollen über die Schranken der Menschheit hinaus, d.h. Menschlichkeit gegen die Tiere, scheint eines der am spätesten erworbenen sittlichen Güter zu sein. […] [Die Idee der Humanität], eine der edelsten, die dem Menschen eingepflanzt ist, scheint sich bei zunehmender Verfeinerung und Erweiterung unseres Wohlwollens nebenher zu entwickeln, bis sie mit der Ausdehnung desselben auf alle empfindende Wesen ihren Höhepunkt erreicht. Sobald diese Tugend von einigen wenigen Menschen ausgeübt und verehrt wird, dehnt sie sich durch Unterricht und Beispiel auch auf die Jugend aus und eventuell auch auf die öffentliche Meinung.“
Radio Irreparabel / Sendereihe von Mathis Zojer