Radio Irreparabel LIV: Moralporno 2 (Auszug)

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Radio Irreparabel
  • Auszug aus Radio Irreparabel LIV: Moralporno 2
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Über das Spießertum des neuen Antimoralismus, der sich zuletzt immer wieder in den Feuilletons einer Affirmation der bestehenden Ordnung verschreibt.

Radio Irreparabel / Sendereihe von Mathis Zojer

Textauszug:

„Moral“, abwertend gebraucht, meint immer die Moral der anderen. Der vor 100 Jahren gestorbene Frank Wedekind war für Heinrich Mann „ein Moralist, ein sittlicher Kämpfer, ein Kämpfer für die Menschenwürde“, gerade weil er sich gegen die repressive Scheinmoral des damaligen Bürgertums wandte, gegen die Fesseln der Borniertheit, die den Menschen von Religion, Nationalismus, patriarchaler Familienordnung und allgemeiner Autoritätshörigkeit umgeschnürt worden waren. Manch durch dieses „Frühlingserwachen“ provozierter Spießer hat vielleicht eine ähnliche Larmoyanz wie ein heutiger Feuilletonist verspürt, weil er seine wohlerworbenen Rechte auf Beschränktheit bedroht sah. So klagt es mit viel Naserümpfen aus den Zeitungen, die „Moral“ nehme überhand. Als wären Xenophobie, Sexismus und Tierquälerei hedonistische Freiheiten, die gegen Prüderie verteidigt werden müssten, wie Sex, Drugs & Rock’n’Roll. Kriegen diese pseudonietzscheanischen Moralverächter von letzteren vielleicht zu wenig ab?

Zugegeben, manchmal wird auch übers Ziel hinausgeschossen, aber deswegen gleich zu behaupten, das Ziel sei überhaupt zu verwerfen, ist ein Humbug, dessen sich intelligente Leute nur in blindwütig reaktionärer Absicht befleißigen. Man wartet ja geradezu darauf, eine missliebige Sache als die von überdrehten Spinnern darstellen zu können, man sucht – und erfindet zur Not gar – die Fälle, in denen ein Anliegen übertrieben wird, um sich um dessen berechtigten Kerngehalt nicht scheren zu müssen. Über diesen breitet man bedachtsam den Mantel des Schweigens, und betrachtet es als Obszönität, wird auch nur ein Zipfel davon gelüftet. „O dieses schamlose Moralisieren!“, wird dann geklagt und damit das ungehörige Eindringen in eine zuvor moralfreie Zone impliziert, ein Einmischen in das, was vermeintlich niemanden was angeht, in die bürgerliche Privatsphäre, in die heile Konsumwelt, in den Markt, der nur den Gesetzen von Angebot und Nachfrage zu gehorchen hat. Aber der sexuelle Übergriff ist nicht Privatsache. Die Bereicherung auf Kosten anderer ist nicht Privatsache. Und der Planet Erde, der Zustand seiner Atmosphäre, Wälder, Meere sowie die Behandlung seiner Bewohner sind auch nicht Privatsache. Sollten es zumindest nach Meinung vieler nicht sein.

Wenn Kritik an einem Missstand mehr empört als der Missstand selbst, ist anzunehmen, dass er systemrelevant ist. So natürlich der Kapitalismus und ökologisch unverträgliche Wachstumsfetischismus, aber auch Sexismus und Speziesismus. Und den Ethnozentrismus mit rassistischem Kern versuchen die Anständigen, die nur in ihrem völkisch-identitären Verschlag als solche fungieren, gerade wieder zu etablieren. Die willkürlich selektive Truppenmoral des „mia san mia“ schlägt zurück, indem sie gegen die aufklärerische Ausweitung der moralischen Kampfzone wettert. Sozialdarwinistische Wettbewerbshärten werden dabei nicht nur von Nationalisten, sondern auch von Neoliberalen ins Treffen geführt, um ein Ausbrechen aus der Beschränktheit einer dezidierten Clubmoral als Verrat oder Selbstmord darzustellen. Aber dieser vermeintliche Realismus der Sachzwänge ist einer Systemlogik geschuldet, der nur wegen ihrer Verinnerlichung durch die Subjekte für diese solch scheinbar naturgesetzliche Rigidität anhaftet.

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