Schon in den 1960er Jahren hat sich Erich Fromm mit dem Thema Grundeinkommen beschäftigt. Sowohl in seinen Werken «Haben oder Sein» oder «Anatomie der menschlichen Destruktivität» , speziell aber in seiner 1966 erschienenen Publikation «Psychologische Aspekte zur Frage eines garantierten Einkommens für alle»
Dr. Franz Lichtenberger hat diese Werke schon vor 50 Jahren gelesen. Im Interview mit Paul Ettl berichtet er davon und liest dann die Publikation von Erich Fromm.
Dieser Beitrag befasst sich ausschließlich mit den psychologischen Aspekten eines garantierten Einkommens, mit dessen Wert, seinen Risiken und mit den menschlichen Problemen, die dabei entstehen können.
Für ein garantiertes Einkommen für alle spricht in erster Linie, dass die Freiheit des einzelnen auf diese Weise entschieden erweitert werden könnte. (Vgl. hierzu auch meine Ausführungen zu einem garantierten Existenzminimum in The Sane Society,1955a, GA IV, S. 234-236.) Bisher war der Mensch während seiner gesamten Geschichte durch zwei Faktoren in seiner Handlungsfreiheit eingeschränkt: durch die Anwendung von Gewalt von Seiten der Herrschenden (besonders dadurch, dass diese in der Lage waren, Abweichler umzubringen) und — was noch wesentlicher war — dadurch, dass alle vom Hungertod bedroht waren, die nicht bereit waren, die ihnen auferlegten Bedingungen in Bezug auf ihre Arbeit und ihre soziale Existenz zu akzeptieren.
Jeder, der nicht bereit war, diese Bedingungen anzunehmen, sah sich der Gefahr, verhungern zu müssen, ausgesetzt, und zwar sogar dann, wenn keine anderen Gewaltmaßnahmen gegen ihn angewandt wurden. Das während des größten Teils der vergangenen und der gegenwärtigen Menschheitsgeschichte vorherrschende Prinzip lautet (im Kapitalismus genau wie in der Sowjetunion): „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.“ Diese Drohung zwang den Menschen, nicht nur so zu handeln, wie von ihm verlangt wurde, sondern auch so zu denken und zu fühlen, dass er nicht einmal in Versuchung geriet, sich anders zu verhalten.
Dass die Geschichte auf dem Prinzip der Angst beruht, verhungern zu müssen, hat seine Ursache letzten Endes darin, dass der Mensch — von bestimmten primitiven Gesellschaften abgesehen — auf einem wirtschaftlich wie psychologisch niedrigen Existenzniveau lebte. Es waren niemals ausreichend materielle Güter vorhanden, mit denen man die Bedürfnisse aller hätte befriedigen können. Gewöhnlich war es so, dass eine kleine Führungsschicht alles an sich nahm, was ihr Herz begehrte, und dass man den vielen, die sich nicht an einen gedeckten Tisch setzen konnten, sagte, es sei Gottes Wille oder das Gesetz der Natur. Hierzu ist allerdings zu bemerken, dass das Ausschlaggebende dabei nicht die Habgier der „Regierenden“, sondern das niedrige Niveau der materiellen Produktivität war.
Ein garantiertes Einkommen, das im Zeitalter des wirtschaftlichen Überflusses möglich wird, könnte zum ersten Mal den Menschen von der Drohung des Hungertods befreien und ihn auf diese Weise von wirtschaftlicher Bedrohung wahrhaft frei und unabhängig machen. Niemand müsste sich mehr nur deshalb auf bestimmte Arbeitsbedingungen einlassen, weil er sonst befürchten müsste, er würde verhungern. Begabte oder ehrgeizige Männer und Frauen könnten die Ausbildung wechseln, um sich damit auf einen anderen Beruf vorzubereiten; eine Frau könnte ihren Ehemann, ein Jugendlicher seine Familie verlassen. Die Menschen hätten keine Angst mehr, wenn sie den Hunger nicht mehr zu befürchten brauchten. (Dies trifft natürlich nur dann zu, wenn keine politischen Drohungen den Menschen am freien Denken, Reden und Handeln hindern.)
Das garantierte Einkommen würde nicht nur aus dem Schlagwort „Freiheit“ eine Realität machen, es würde auch ein tief in der religiösen und humanistischen Tradition des Westens verwurzeltes Prinzip bestätigen, dass der Mensch unter allen Umständen das Recht hat zu leben. Dieses Recht auf Leben, Nahrung und Unterkunft, auf medizinische Versorgung, Bildung usw. ist ein dem Menschen angeborenes Recht, das unter keinen Umständen eingeschränkt werden darf, nicht einmal im Hinblick darauf, ob der Betreffende für die Gesellschaft „von Nutzen ist“.
Der Übergang von einer Psychologie des Mangels zu einer des Überflusses bedeutet einen der wichtigsten Schritte in der menschlichen Entwicklung. Eine Psychologie des Mangels erzeugt Angst, Neid und Egoismus (was man auf der ganzen Welt am intensivsten in Bauernkulturen beobachten kann). Eine Psychologie des Überflusses erzeugt Initiative, Glauben an das Leben und Solidarität. Tatsache ist jedoch, dass die meisten Menschen psychologisch immer noch in den ökonomischen Bedingungen des Mangels befangen sind, während die industrialisierte Welt im Begriff ist, in ein neues Zeitalter des ökonomischen Überflusses einzutreten. Aber wegen dieser psychologischen „Phasenverschiebung“ sind viele Menschen nicht einmal imstande, neue Ideen wie die eines garantierten Einkommens zu begreifen, denn traditionelle Ideen werden gewöhnlich von Gefühlen bestimmt, die ihren Ursprung in früheren Gesellschaftsformen haben.
Eine weitere Auswirkung des garantierten Einkommens in Verbindung mit einer wesentlich verkürzten Arbeitszeit für alle wäre sicher, dass die geistigen und religiösen Probleme des menschlichen Daseins real und bestimmend würden. Bisher war der Mensch mit seiner Arbeit zu sehr beschäftigt (oder er war nach der Arbeit zu müde), um sich ernsthaft mit den Problemen abzugeben: „Was ist der Sinn des Lebens?“, „Woran glaube ich?“, „Welche Werte vertrete ich?“, „Wer bin ich?“ usw. Wenn er nicht mehr ausschließlich von seiner Arbeit in Anspruch genommen ist, wird es ihm entweder freistehen, sich ernsthaft mit diesen Problemen auseinanderzusetzen, oder er wird aus unmittelbarer oder kompensierter Langeweile halb verrückt werden. Prinzipiell kann der wirtschaftliche Überfluss die Befreiung von der Angst vor dem Hungertod, den Übergang von einer vormenschlichen zu einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft kennzeichnen.
Um ein ausgeglichenes Bild zu bieten, sollte man aber auch einige Einwände gegen diese Vorstellung von einem garantierten Einkommen für alle und kritische Fragen nicht außer Acht lassen. Die nächstliegende Frage lautet, ob ein garantiertes Einkommen nicht die Arbeitsmotivation beeinträchtigen würde.
Ganz abgesehen davon, dass bereits heute für einen ständig wachsenden Teil unserer Bevölkerung überhaupt keine Arbeit vorhanden ist und dass daher die Frage der Arbeitsmotivation für diese Menschen nicht relevant ist, sollte man diesen Einwand trotzdem ernst nehmen. Meines Erachtens kann man zeigen, dass der materielle Anreiz keineswegs das einzige Motiv ist, um zu arbeiten und sich anzustrengen. Erstens gibt es auch noch andere Motive — wie z. B. Stolz, soziale Anerkennung, Freude an der Arbeit selbst usw. An Beispielen hierfür fehlt es nicht. Am deutlichsten sieht man es an der Arbeit des Wissenschaftlers, des Künstlers usw., deren hervorragende Leistungen nicht vom finanziellen Gewinn, sondern von verschiedenen Faktoren motiviert sind: vor allem vom Interesse an seiner Arbeit, vom Stolz auf die eigene Leistung und dem Streben nach Anerkennung. Aber so augenfällig diese Beispiele auch sein mögen, so sind sie doch nicht völlig überzeugend, weil man sagen könnte, diese Ausnahmemenschen seien zu solchen außergewöhnlichen Anstrengungen eben deshalb fähig, weil sie so außergewöhnlich begabt seien, und sie seien deshalb keine typischen Beispiele für die Reaktion des Durchschnittsmenschen. Mir scheint dieser Einwand jedoch nicht stichhaltig, wenn wir uns die Antriebe zur Aktivität bei Menschen näher ansehen, welche diese Eigenschaften des außergewöhnlichen, kreativen Menschen nicht besitzen. Welche Anstrengungen werden im Bereich des Sports und vieler Hobbys aufgeboten, wo keinerlei materielle Anreize gegeben sind. In welchem Ausmaß das Interesse am Arbeitsprozess selbst ein Antrieb zur Arbeit sein kann, hat zuerst Professor Mayo in seiner klassischen Untersuchung in den Chicagoer Hawthorne-Werken der „Western Electric Company“ nachgewiesen (E. Mayo, 1933). Allein die Tatsache, dass man ungelernte Arbeiterinnen bei dem Experiment, das ihre Arbeitsproduktivität betraf, selbst heranzog und sie durch ihre Beteiligung zu interessierten, aktiven Teilnehmern wurden, führte zu einer höheren Produktivität, ja sogar zu einem besseren Gesundheitszustand.
Das Problem wird noch deutlicher, wenn wir uns ältere Gesellschaftsformen einmal genauer ansehen. Die Tüchtigkeit und Unbestechlichkeit der traditionellen preußischen Beamten war berühmt, obwohl sie sehr schlecht bezahlt wurden; in diesem Fall waren Begriffe wie Ehre, Treue und Pflichterfüllung die entscheidenden Antriebe zu guten Arbeitsleistungen. Betrachten wir vorindustrielle Gesellschaften (wie zum Beispiel die mittelalterliche europäische Gesellschaft oder die halbfeudalen Gesellschaften zu Anfang unseres Jahrhunderts in Lateinamerika), so taucht noch ein anderer Faktor auf. In diesen Gesellschaften wollte beispielsweise ein Zimmermann nur so viel verdienen, dass er sich das leisten konnte, was zu seinem traditionellen Lebensstandard gehörte. Er hätte sich geweigert, mehr zu arbeiten und zu verdienen, als er brauchte.
Ein zweites Argument dafür, dass der Mensch nicht nur aus materiellem Anreiz arbeiten und sich anstrengen will, ergibt sich aus der Tatsache, dass der Mensch unter den Folgen von Untätigkeit leidet und eben gerade nicht von Natur aus träge ist. Sicher würden viele Leute gerne für ein oder zwei Monate nicht arbeiten. Die allermeisten würden aber dringend darum bitten, arbeiten zu dürfen, selbst wenn sie nichts dafür bezahlt bekämen. Erkenntnisse über die kindliche Entwicklung und über Geisteskrankheiten liefern eine Fülle Daten hierfür. Es sollte unbedingt eine systematische Untersuchung gemacht werden, bei der alle verfügbaren Daten unter dem Aspekt „Trägheit als Krankheit“ analysiert würden.
Wenn nun Geld nicht der Hauptanreiz ist, müsste doch die Arbeit in ihren technischen oder gesellschaftlichen Aspekten so attraktiv und interessant sein, dass man sie eher in Kauf nehmen würde als Untätigkeit. Der moderne, entfremdete Mensch ist (meist {179} unbewusst) apathisch und sehnt sich daher mehr nach Nichtstun als nach Betätigung. Diese Sehnsucht ist jedoch ein Symptom unserer „Pathologie der Normalität“. Vermutlich würde der Missbrauch des garantierten Einkommens nach kurzer Zeit wieder verschwinden, genauso wie auch die Leute, wenn sie für Süßigkeiten nichts zu bezahlen brauchten, sich nach ein paar Wochen nicht mehr daran überfressen würden.
Ein weiterer Einwand lautet: Wird es den Menschen wirklich freier machen, wenn er keine Angst vor dem Verhungern mehr zu haben braucht, wenn man bedenkt, dass Menschen mit einem guten Einkommen vermutlich genauso viel Angst haben, ihre Stelle zu verlieren, die ihnen im Jahr 15 000 Dollar einbringt, wie die, welche hungern müssten, wenn sie ihren Job verlieren würden. Wenn dieser Eindruck richtig ist, würde das garantierte Einkommen die Freiheit der Mehrheit, jedoch nicht die Freiheit der oberen Schichten vergrößern.
Um diesen Einwand ganz zu begreifen, müssen wir bedenken, von welchem Geist unsere heutige Industriegesellschaft erfüllt ist. Der Mensch hat sich in einen homo consumens verwandelt. Er ist unersättlich und passiv und versucht seine innere Leere mit einem ständigen, stets wachsenden Konsum zu kompensieren. Es gibt viele klinische Beispiele für diesen Mechanismus, bei dem übermäßiges Essen, Kaufen und Trinken eine Reaktion auf Depression und Angst ist. Konsumiert werden Zigaretten, Schnaps, Sex, Filme, Reisen, Bildungsgüter wie Bücher, Vorlesungen, Kunst. Der Mensch macht den Eindruck, als sei er aktiv und höchst angeregt, in seinem tiefsten Innern ist er jedoch erfüllt von Angst, ist er einsam, deprimiert und gelangweilt. (Langeweile kann als jene Art chronischer Depression begriffen werden, die man erfolgreich mit Konsum kompensieren kann.) Die Industriegesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts hat diesen neuen psychologischen Typ, den homo consumens, in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen geschaffen, d. h. um des notwendigen Massenkonsums willen, der durch die Werbung stimuliert und manipuliert wird. Aber der einmal geschaffene Charaktertyp beeinflusst seinerseits wieder die Wirtschaft und läßt das Prinzip der ständig zunehmenden Befriedigung vernünftig und realistisch erscheinen. Das Problem wird dadurch noch komplizierter, dass mindestens zwanzig Prozent der amerikanischen Bevölkerung in unzureichenden Verhältnissen leben, dass einige Länder Europas, vor allem die sozialistischen, noch keinen befriedigenden Lebensstandard erreicht haben und dass der größte Teil der Menschheit in Lateinamerika, Afrika und Asien kaum über dem Hungerniveau existiert. Jedes Argument, das sich für einen geringeren Konsum einsetzt, wird mit dem Gegenargument beantwortet, dass in den meisten Teilen der Welt der Konsum noch gesteigert werden müsse. Dies ist richtig; doch besteht die Gefahr, dass selbst in den heute noch armen Ländern das Ideal des maximalen Konsums richtungweisend für alle Anstrengungen wird, dass es den Geist der Menschen formen und daher auch weiterhin wirksam sein wird, wenn das optimale Konsumniveau bereits erreicht ist.
Mit den ökonomisch orientierten Forschungsarbeiten auf dem Gebiet des garantierten Einkommens für alle müssen auch noch andere Forschungen betrieben werden: psychologische, philosophische, religiöse und erziehungswissenschaftliche. Der große Schritt zu einem garantierten Einkommen wird meiner Meinung nach nur Erfolg haben, wenn Veränderungen in anderen Bereichen mit ihm Hand in Hand gehen. Wir dürfen nicht vergessen, dass das garantierte Einkommen nur zustande kommen kann, wenn wir aufhören, zehn Prozent unseres Gesamteinkommens für die wirtschaftlich nutzlose und gefährliche Rüstung auszugeben, wenn wir der Ausbreitung sinnloser Gewalttätigkeiten dadurch Einhalt gebieten, dass wir die unterentwickelten Länder systematisch unterstützen, und wenn wir Mittel und Wege finden, der Bevölkerungsexplosion Einhalt zu gebieten. Ohne diese Wandlungen wird kein Plan für die Zukunft gelingen, weil es keine Zukunft geben wird.