35. Sendung (Erstausstrahlung: November 2011)
Soul Power – Die wiedergefundene Seele des Jazz
Die schon lange eingebürgerte Bezeichnung Soul Jazz ist eigentlich kein richtiger Gattungs- bzw. Stilbegriff im modernen Jazz, eher ein kurzlebiger Trend oder eine Modeerscheinung aus den 1950er Jahren, einem dem Rhythm & Blues nähere, funkige Version des Hardbops mit einem guten Schuß Gospelmusik. Horace Silver war der erste, der um 1955 nicht mehr von einem starken Gefühlsausdruck in seinem Spiel zurückschreckte. Er spielte den Blues mit starker Betonung des Aufschlags (beat) und der ganzen Härte und Expressivität, die der schwarze Blues früher hatte. Seither schien der Modern Jazz die Unversehrtheit seiner Seele und die Naivität seines Ausdrucks bei den Quellen der Volksmusik wiedergefunden zu haben. Doch diese Wiedergeburt der schwarzen Seele im Jazz war aber alles andere als romantisch und nostalgisch. Das Pathos und der Zorn waren die gleichen wie bei den legendären Blues-Sängerinnen Bessie Smith oder Ma Raney. Die Bezeichnung Soul im Jazz gilt unter Musikern als Synonym für „feeling“, eine gefühlsmäßige Interpretation, die vor allem vom Singen der Gospel-Lieder und Spirituals der schwarzen Kirchenchöre an Sonntagen stammt. Das „feeling“ dieser Art neueren, zeitgemäßeren Blues der schwarzen Jazzmusiker war das gleiche Gefühl, das wir schon aus den Kirchengemeinden der amerikanischen Black Ghettos kannten. Milt Jackson antwortete auf die Frage, was das sei, Soul? “Es ist das, was von innen kommt. Das, was sich ereignet, wenn dein Inneres nackt heraustritt. Jeder will von mir wissen, woher ich diesen funky Stil habe. Aus der Musik meiner Kirche! Die Musik, die ich dort hörte, war offen, spontan, gelöst und ehrliche Soul Music!“ Es war das, was Mahilia Jackson „spirit free feel“ nennen würde. Gospel-Songs und Blues bilden immer noch eine originäre und ursprüngliche Form der afro-amerikanischen Musik, die von großer emotionaler Kraft war für das Zustandekommen des sog. Soul Jazz und spirituellen Jazz im Zuge der afro-amerikanischen Befreiungs- und Bürgerrechtsbewegung ab den 1950er Jahren. Der Soul Jazz ist somit ein Wiederaufgreifen des alten Blues, vermengt mit den Bop- und Hardbop-Elementen mit allerdings „regressiven“ Zügen. Der Kritiker Martin Williams hat unter dem Schlagwort funky hardbop regression dargelegt, worauf der Soul Jazz gründet, nämlich auf einer Verbindung der vitalen Bop-Spielweise mit einer starken affektiven Bindung an sowohl die Kirchen- und Gospelmusik als auch den Blues als Quellen neuer Inspiration. Hauptvertreter dieses als „funky“ bezeichneten Stils waren Horace Silver, Art Blakey, Lee Morgan, Blue Mitchell, Cannonball Adderley, Wynton Kelly, Bobby Timmons und Les McCann. Dieses ominöse Soul meinte das gleiche wie das später in Mode geratene Wort Funk. Seit den 1960er Jahren dient „funky“ vor allem im Bereich der schwarzen Unterhaltungsmusik als Definition bestimmter, heißer und souliger Rhythmen und Soul Music. Die Improvisationen machten extensiven Gebrauch von „dreckigen“ und verschmierten blue notes, expressiv wiederholten Ostinato-Riffs, weit ausholenden Crescendi und sequenzierten Grooves, denen ein intensiver Beat unterlegt wurde. Wenn auch die Elemente des emotionalen und religösen Gospelsgesangs im Soul Jazz säkularisiert und umgedeutet werden, hat der Hardbop die Seele des Jazz wiederentdeckt. Man kann bereits an vielen Titeln der leicht ins Ohr gehenden Standards des Soul Jazz oder gar an den Gruppennamen einiger Combos (Jazz Prophets, Jazz Messengers, Jazz Crusaders, Soul Brothers, Four Souls, Soulniks, Three Sounds, Soul Searchers, etc.) den Bezug zur Seele erkennen. Dies hängt allerdings weniger mit dem Glauben zusammen als mit dem ansteigenden schwarzen Bewußtsein und dem militanten Rassenkampf in den USA während des Kalten Krieges. Auch im Begrifflichen schlug sich der Bezug zur Kirche (Kanzel-Jazz), zur Sklavengesellschaft, zur Segregation (Jim Crow) und zur Hausmannskost (Soul Food) in den Südstaaten nieder. Die Blütezeit des Soul Jazz war intensiv, jedoch von kurzer Dauer. Plattenfirmen wie Blue Note, Riverside, Jazzland und Prestige bescherten dem weißen Publikum viele Dauerbrenner wie Moanin, Sidewinder, Work Song, The Sermon, The Preacher, Song for My Father, Sister Sadie, Chicken & Dumplins, Cornbread, Good Gravy und Watermelon Man. Dass aber ausgerechnet ein weißer Pianist, der Wiener Joe Zawinul, mit seinem Partyhit Mercy, Mercy, Mercy einen der erfolgreichsten Hitsongs der Epoche und des Genres lieferte, gehört zur feinen Ironie der Jazzgeschichte!
Musikbeispiele:
Horace Silver: Sister Sadie (Horace Silver), rec. 1959 mit Jr. Cook, Blue Mitchell
Ray Bryant: Sister Suzie (Ray Bryant), rec. 1964
Blue Mitchell: Minor Vamp (Benny Golson), rec. 1959
Grant Green: Go Down Moses (Traditional), rec. 1962
Bobby Timmons: The Sit-In (Bobby Timmons), rec. 1963
Cannonball Adderley: Mercy, Mercy, Mercy (Joe Zawinul), rec. live Chicago 1966
Frank Foster: Raunchy Rita (Frank Foster), rec. 1965
Johnny Lytle: Got That Feeling! (Johnny Lytle), rec. 1963
Johnny Lytle: Pow-Wow (Nat Adderley/Joe Zawinul), rec. 1963
Sonny Criss: Sonny’s Dream (Horace Tapscott), rec. 1968
Gestaltung & Am Mikrofon: Helmut Weihsmann
Tontechnik & Produktion: Gernot Friedbacher