41. Sendung (Erstausstrahlung: Mai 2012)
This Lady Sings The Blues – Helen Merrill singt traurige Jazzstandards
Mit der lasziven, “sexy“ klingenden kühlen Stimme der platinblonden Vokalistin Helen Merrill repräsentiert der moderne Jazzgesang eine originelle Interpretin und eigenständige Variante des famosen American Songbooks, die sich auch dem ziemlich experimentellen Tendenzen ihrer Zeit des Bebop, Cool Jazz und Third Stream nicht verschlossen hatte, und trotzdem ganz eigene Wege in der Traditionslinie von Billie Holiday, Ella Fitzgerald oder einer extravaganten Diva wie Antia O’Day ging. Neben Helen Merrill traten zeitgleich auch andere weiße Sängerinnen in diese charakteristische Crooner-Traditionslinie ein, wie Peggy Lee, Chris Conner, Sheila Jordan oder Carol Sloane, doch Helen Merrill ist einzigartig was ihre breite Ausdrucksskala und perfekte Stimmbeherrschung betrifft. Die mittlerweile 80-jährige Grand Dame sang mit den namhaftesten Bands ihrer Zeit und den Legenden des Jazz. Ihre weiche und unterkühlte, ja unschuldige Mädchenstimme, die blöderweise einmal als das stimmliche Äquivalent zur Filterzigarette (Melody Maker) genannt wurde, ist durch den verrauchten, milchigen Klang stets erkennbar und kommt in den sog. Jazzballaden am wirksamsten zum Vorschein. Unter Musikerkollegen erhielt sie deshalb den liebevollen Spitznamen “The Sigh (Seufzer) of New York“. Helen Merrill kommt ja aus der slawischen Kultur und ist weit davon entfernt, den schwarzen amerikanischen Blues nachzusingen oder ihn gar zu kopieren. Ihre Stimme ist eigenartigerweise verraucht, doch klar und feinfühlig, ja man könnte sagen fast sophisticated, locker und unangestrengt. Bei Helen Merrill liebe ich persönlich das besondere Flair ihrer Songs und ich finde das in ihr, was man früher ‚Aura‘ (Seele) nannte. Ihr weicher, mitunter auch melancholischer Gesang ist weder kämpferisch noch glatt, weder harsch noch süßlich, weder mütterlich noch jugendlich mädchenhaft. Eine angenehme, technisch brillante und doch eigenartige Stimme, hoch respektiert von ihren Kollegen und ihrer Fangemeinde, doch man hört auch Schmerz und Trauer heraus. Zur Biographie: Helen Merrill (eig. Jelena Ana Milcetic) ist eine wichtige Jazzsängerin kroatischer Abstammung. Sie wurde 1930 in New York City geboren und trat bereits mit vierzehn Jahren als Amateursängerin in den Jazzklubs der Bronx auf, bis sie den Klarinettisten Aaron Sachs heiratete und von ihm Kinder bekam bis ihre Ehe im Jahr 1959 geschieden wurde. Nach einer Kinder & Küche bedingten Berufspause ging sie 1952/53 mit ihrem Entdecker Earl ‚Fatha‘ Hines auf eine erfolgreiche US-Tournee. Im gleichen Jahr erschien ein witziger Werbe-Jingle (mit Don Elliott und Jimmy Raney) für die bekannte amerikanische Zigarettenfirma KOOL. Von da an wurde die rauchige Stimme ihr Markenzeichen. Im selben Jahr folgte ihre erfolgreiche Debutplatte zusammen mit Clifford Brown und Oscar Pettiford für das Sub-Label Emarcy von Mercury Records, die von keinem Geringeren als Quincy Jones produziert wurde. Die sensible Sängerin hat sich auch stets mit hochkarätigen Musikern der Gegenwart umgeben, ob Gil Evans, Quincy Jones, John Lewis, Hank Jones, Pepper Adams, Stan Getz, Steve Lacy oder Wayne Shorter. Zu Beginn ihrer Karriere arbeitete sie schon mit bekannten Jazzgrößen wie Lennie Tristano, George Russell, Charles Mingus, Thad Jones, Charlie Byrd, Dick Katz, Marian McPartland, Jim Hall und Bill Evans zusammen. 1956 folgte dann die feine und lyrisch verträumte Platte Dream Of You mit dem Top-Arrangeur Gil Evans. Jahrzehnte später nahm sie noch einmal mit Gil Evans dieselben Stücke unter dem Titel Collaboration (1987) auf. Die Globetrotterin lebte auch einige Jahre in London, Paris und Rom, wo sie einige bemerkenswerte Soloalben einspielte. Von 1967 bis 1974 lebte und arbeitete sie in Tokio, wo sie als erster US-Star am Konservatorium unterrichtete und mit Gary Peacock und Masahiko Sato in Klubs auftrat und mit japanischen Musikern eine Bigband hatte. Mehrmals wurde sie in den amerikanischen und japanischen Jazz Polls ausgezeichnet. Erst 1972 ließ sie sich wieder in Amerika nieder. In Chicago arbeitete sie mit einer Band lokaler Musiker unter der Ägide von Dick Marx, Larry Novak und Johnny Frigo. Seit ihrer Rückkehr in die Staaten arbeitete sie meist mit ihrem zweiten Ehemann, dem inzwischen verstorbenen Pianisten und Arrangeur Torrie Zito, zusammen, z.B. im Rahmen einer Bossa Nova inspirierten Schallplatte, die künstlerisch jedoch weniger erfolgreich war. Zum Schluss erschien eine Aufnahme unter ihrem richtigen Geburtsnamen Jelena Ana Milcetic. Das vorerst letzte Element ihrer langen Diskografie bildet Lilac Wine von 2004.
Musikbeispiele:
By Myself (Howard Dietz/Arthur Schwartz)
Anyplace I Hang My Hat Is Home (Harold Arlen/Johnny Mercer)
Dream Of You (Sy Oliver)
Softly As In A Morning Surnrise (Sigmond Romberg/Oscar Hammerstein), rec. 1957
Black Is The Color Of My True Love‘s Hair (traditional) mit Marian McPartland, rec. 1957
Just Imagine (R. Henderson/L. Brown/B.G. DeSylva) mit Bill Evans (p), rec. 1958
Summertime (George & Ira Gershwin), rec. 1957
Baltimore Oriole (Webster/Hoagy Carmichael), rec. 1967
My Funny Valentine (Richard Rodgers/Jerome Hart), rec. 1968
Carless Love (unknown) mit Charlie Byrd (g), rec. 1964
Lonely Woman (Ornette Coleman) mit Gary Bartz (as), rec. 1968
Sposin‘ (Andy Razaf/P. Benniker), rec. Tokyo 1971
Angel Eyes (Matt Dennis/E. Brent), rec. 1971
Waltz For Debby (Bill Evans/Gene Lees) mit Masahiko Sato (p), rec. 1977
People Will Say We‘re In Love (Richard Rodgers/Oscar Hammerstein), rec. 1987
Music Makers (Torrie Zito/Helen Merrill) mit Gordon Beck & Steve Lacy, rec. 1986
Gestaltung & Am Mikrofon: Helmut Weihsmann
Tontechnik & Produktion: Gernot Friedbacher