Bemerkungen zur Konfrontation über die Ukraine
Es war einmal vor 20 Jahren:
„Die ‘zwei Nationen’ in der Ukraine
In der Ukraine bestehen heute faktisch zwei Bevölkerungsteile, die man durchaus ‘Nationen’ nennen könnte, da sie die entsprechenden Hauptmerkmale ganz oder partiell aufweisen. Die (bedingte) geographische Trennungslinie zwischen ihnen ist der Fluss Dnjepr (ukrainisch Dnipro).“
Eigenschaften und Wertorientierungen der Mehrheit der Ukrainer vom rechten Ufer des Dnjepr:
Der Wunsch, die Ukraine als unabhängigen Staat zu sehen; klare Dominanz der ukrainischen Sprache; eine insgesamt negative Einstellung gegenüber der KPU und anderen Linksparteien mit mehr oder weniger ausgeprägter pro-russischer Orientierung; Verbindung der politischen und wirtschaftlichen Interessen der Ukraine mit den Ländern Westeuropas; Eintreten für eine marktwirtschaftliche Ordnung; ein bedeutender Teil der Bevölkerung hat persönliche, verwandtschaftliche und wirtschaftliche Beziehungen mit westlichen Ländern (Geschäfte, legale oder illegale Arbeit in Ungarn, Polen, der Slowakei, Tschechien usw.); hohe religiöse Aktivität …
Die Einstellungen der Mehrheit der Einwohner der Ukraine am linken Ufer des Dnjepr:
Das Bemühen, an sehr engen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit Russland festzuhalten bis hin zur Vereinigung in einen gemeinsamen Staat; die Überzeugung, dass die Ukraine in erster Linie wirtschaftliche und politische Beziehungen mit der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und anderen Staaten haben sollte, die mit Russland (und Belarus) gute Kontakte unterhalten; Bevorzugung der russischen Sprache oder einer ukrainisch-russischen Zweisprachigkeit mit Schwerpunkt auf dem Russischen; eine positive Einstellung gegenüber der KPU und anderen Linksparteien; eine zurückhaltende bis ablehnende Position gegenüber marktwirtschaftlichen Prinzipien; ein bedeutender Teil der Bevölkerung hat persönliche wirtschaftliche und verwandtschaftliche Beziehungen mit Russland; die religiöse Aktivität der Bevölkerung ist viel niedriger.
Quelle: Zu den Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland – Überlegungen aus ukrainischer Sicht
Autoren: Anatolij Pavlenko, Oberst der Reserve (Marineluftwaffe), Kiew / Martin Malek (Abteilung Internationaler Friedenssicherung (AIF) der Landesverteidigungsakademie, Wien), nicht datiert, Quellenangaben aus 2001
https://www.bundesheer.at/pdf_pool/publikationen/14_sr5_13.pdf
[Kleiner Scherz am Ende: „Nach Meinung der Verfasser brächte der Ukraine die Erklärung der Neutralität nach innen wie außen große Vorteile. Sie könnte einerseits die dargestellten Widersprüche zwischen den westlichen und östlichen Landesteilen wenn nicht aufheben, so aber doch mildern und böte andererseits die Handhabe, den russischen Druck auf Teilnahme an der militärischen ‘Integration’ in der GUS wie auch zur bilateralen militärischen Kooperation zu reduzieren. Allerdings wäre auch die Neutralität kein Mittel gegen das Vordringen russischen Kapitals in Schlüsselbereiche der ukrainischen Wirtschaft und gegen die russischen Anstalten, Gaspipelines zur Umgehung der Ukraine zu errichten. Hier müsste in Gestalt vermehrter westlicher Investitionen in der Ukraine ein Gegengewicht geschaffen werden – aber diese werden sich ohne glaubwürdige und effektive Bekämpfung von Korruption und Kriminalität sowie Entbürokratisierung und Rechtssicherheit nicht einstellen.“] (ebd.)
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Nach der vom Westen 2014 unterstützten „Revolution“ bzw. dem „Putsch“ gegen die damalige ukrainische Regierung, und der eindeutigen Wendung nach Westen verfestigte sich im russischen Teil der ukrainischen Bevölkerung – zur Erinnerung: vor zwanzig Jahren noch als eigene Nation innerhalb der Ukraine gesehen – der Eindruck, auf eine diskriminierte Minderheit heruntergebracht zu werden – u.a. durch Reformen in Bezug auf den Gebrauch der ukrainischen Sprache. Darauf erklärten russische Separatisten in den Bezirken Donezk und Luhansk und auf der Krim die Abspaltung von der Ukraine. Dort konnten die sich – unterstützt von Russland – militärisch behaupten; die Krim wurde von Russland annektiert. Seit 2015 gibt es ein Abkommen von Minsk (Minsk II) über einen Waffenstillstand und einige Deeskalationsschritte wie den Rückzug schwerer Waffen, überwacht von der OSZE. Ausgehandelt wurde das Abkommen von der Ukraine, Russland, sowie Deutschland und Frankreich, unterschrieben von Vertretern der Ukraine, Russlands und von den Separatisten in Donezk und Luhansk.
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Der Westen hat diese Abspaltung und die Annexion der Krim nie anerkannt; berufen hat man sich auf die „Territoriale Integrität“ und die „Souveränität“ der Ukraine. Der westliche Politiker hat bekanntlich in diesem Zusammenhang, wenn es um Grenzen und Grenzänderungen geht, zwei höchste „Werte“, die je nach außenpolitischem Bedarf aus der Hosentasche gezogen werden. Der andere Wert neben der territorialen Integrität wäre das „Selbstbestimmungsrecht des Volkes“. Das plakative, immer aktuelle Beispiel ist die nähere österreichische Umgebung, nämlich das ehemalige Jugoslawien oder auch Serbien: Damals war die „Territoriale Integrität“ Jugoslawiens nichtig und das „Selbstbestimmungsrecht“ der Teilvölker war heilig, so wie auch beim Kosovo im Verhältnis zu Serbien; bei der ehemaligen Jugo-Teilrepublik Bosnien-Herzegowina ausgerechnet innerhalb der ehemaligen innerjugoslawischen Grenzen ist es genau umgekehrt: Deren territoriale Integrität ist heilig, und das Selbstbestimmungsrecht der serbischen Volksgruppe gilt nichts. (Der dortige Serbenführer beruft sich bei seinen Sezessionsbedürfnissen übrigens auf die slowenische Vorgangsweise bei der Separation von Jugoslawien.)
Das heißt, diese Waffenstillstandslinie nach Minsk II ist ein jederzeit aktivierbares und eskalierbares Schlachtfeld für alle Beteiligten. Das hat natürlich auch die Ukraine bemerkt, auf ihre Weise.
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Die Ukraine wird mittlerweile vor allem von den USA massiv aufgerüstet, mit Waffen, die sich die Ukraine gar nicht leisten kann; z.T. stehen bestimmte Einheiten ziemlich direkt unter US-Kontrolle. Das vor zehn Jahren devastierte und demoralisierte Militär der Ukraine ist nun wesentlich besser aufgestellt; im Winter des vorigen Jahres steigert die Ukraine: Im Ausbildungsprogramm Straßen- und Häuserkämpfe in städtischer Umgebung (junge Welt, 3.3.21). Verletzungen der Waffenstillstandsabkommen an der Demarkationslinie finden ohnehin regelmäßig statt, dazu kommt laut einer Meldung der OSZE die zunehmende Vorverlegung schwerer Waffen, die gemäß der Einigung im Minsk-Format zurückverlegt worden waren. Gleichzeitig verbreitet die Ukraine gezielt Informationen, die auf einen größer angelegten Angriff auf die Separatisten verweisen: Bilder von Transporten mit Panzern und Raketenwerfern auf Bahnhöfen im Hinterland der Front. (junge Welt, 12.3.21)
Ende März wird dann die neue Militärdoktrin der Ukraine veröffentlicht mit dem obersten Ziel der „Wiederherstellung ihrer territorialen Integrität innerhalb der Staatsgrenzen“. In den Streitkräften sei nunmehr völlige Gefechtsbereitschaft hergestellt worden: Man habe Erfahrung in der Kriegsführung in der Ostukraine. Es beginnen Manöver im Süden des Landes … Ebenso demonstrativ hat die Ukraine Reservisten der Territorialverteidigung in den südlichen Bezirken entlang der Schwarzmeerküste mobilisiert. (junge Welt, 7.4.21)
In der Führung der Ukraine gibt es keine Illusionen über das Kräfteverhältnis: Im skizzierten Kriegsszenario der Militärdoktrin ist die „Einstellung der bewaffneten Aggression mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft zu günstigen Bedingungen für die Ukraine“ vorgesehen, als da wäre „die Wiedereingliederung der vorübergehend besetzten Gebiete“ (A. Jermak, „Strategie der militärischen Sicherheit der Ukraine“) Die Planung läuft darauf hinaus, dass die Ukraine einen Krieg anzettelt, zur Wiedereroberung der abtrünnigen Gebiete, und dann die „internationale Gemeinschaft“, vulgo die NATO einsteigt und für die Ukraine den Krieg gewinnt; durch das das Verheizen der eigenen Truppen sollte die NATO zur Eskalation genötigt werden: „Der Erfolg der Strategie hängt ab von … politischer, wirtschaftlicher und militärischer Unterstützung der Ukraine durch die Weltgemeinschaft bei der geopolitischen Konfrontation mit der Russischen Föderation.“ (ebd.)
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Wie kommt die Ukraine auf so etwas? Im eigenen Kriegs-Szenario ist unterstellt, dass nicht nur die Separatistengebiete im Osten völlig kaputt sind, sondern auch vom Rest der Ukraine nicht viel übrig bleibt, nach so einem Krieg. Das alles für die Rückeroberung eines absehbar nutzlosen Landesteils? Das ist einerseits der staatliche Normalfall, die Souveränität ist der höchste nationale Wert, dem im Streitfall alles zu opfern ist. In diesem speziellen Fall regiert der ehemalige Komiker Selenskyj, der vom enttäuschten Wähler in der Ukraine letztens zum Präsidenten gewählt wurde, ein Land auf dem Weg zum „failed state“, ein ziemlich „kaputtes System“. Die Regierung und ihre parlamentarische Mehrheit produziert enttäuschte Bürger, wie jede ukrainische Regierung vorher. Jede Versprechung von Selenskyj – Frieden im Osten, Entschärfung der Sprachgesetze, Reparatur der ökonomischen Schäden und Wirtschaftswachstum – hat sich blamiert. Wachstum gibt es nur bei den Waffen, bei den Schulden und bei der Auswanderung, weil die westlichen Freunde, vor allem die USA, zwar etliches an militärischem Gerät und „Ausbildnern“ liefern, aber unnachgiebig auf sog. „Reformen“ bestehen: Als da wären die Zerstörung der noch vorhandenen, überkommenen wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland, die Zerschlagung der Staatswirtschaft („Privatisierung“) und der Kampf gegen die „Korruption“ und die „Oligarchen“ – deren Geschäfte mehr oder weniger die übrig gebliebene nationale Wirtschaft bilden. Das Land ist von den Krediten des IWF abhängig und muss sich diese durch die erpressten selbstbeschädigenden Reformen schwer verdienen. Der Staatsapparat erodiert, Regionen und Oligarchen streiten um ökonomische Erträge. Das verschärft die innenpolitischen Gegensätze, den einen ist der Komiker zu wenig aggressiv gegen die Abspaltungen im Osten, ein anderer Teil, die Russland-affinen Bevölkerungsteile, können mit dem Konfrontationskurs nichts anfangen.
[Die größeren Zugeständnisse an Russland, die das Minsker Abkommen verlangt, hätten eine Gegenreaktion vonseiten der nationalistischen ukrainischen Opposition bewirkt, die ihn [Selenskyj] die Präsidentschaft hätte kosten können. Die dürftigen Fortschritte bei der Regelung des Donbass-Konflikts führten zu einer Desillusionierung in der ukrainischen Gesellschaft, die durch die wirtschaftlichen Nöte noch gesteigert wurde. Selenskyj war gezwungen, die Tarife der Versorgungsunternehmen zu erhöhen, um die Forderungen des IWF zu erfüllen, während auf der anderen Seite die Pandemie die Kleinbetriebe ausbluten ließ. Die Unfähigkeit der ukrainischen Behörden, genügend Corona-Impfstoff für Massenimpfungen der Bevölkerung zu sichern, hat Selenskyjs Popularität den letzten Schlag versetzt. (carnegy.ru, 5.4.21)]
Da kommt der Präsident also auf die Idee, mit einem echten Krieg seine „scheiternde“ Nation so richtig voranzubringen, nämlich vor allem die bedingungslose Unterstützung des Westens zu erzwingen, und so militärisch, politisch und ökonomisch zu reüssieren, Kredite und Militärhilfe fließen zu lassen. Die ukrainische Nation würde sich wie ein Mann hinter ihn stellen; die Fanatiker wären bedient, der Separatismus erledigt – Ukraine kaputt, aber wiedervereint, so in etwa. Das wäre die brachiale Kalkulation eines failed state; aber lassen sich die USA so zum Krieg nötigen?
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Schon im April des vorigen Jahres gab es regen diplomatischen Verkehr. Die russische Reaktion auf das Kriegsgetöse der Ukraine in Gestalt von umfangreichen Manövern im Süden und Westen der Russischen Föderation bringt der Ukraine zwar die Verurteilung der russischen Aggression durch den amerikanischen Präsidenten ein. Biden bekräftigte ‘Amerikas unerschütterliche Unterstützung für die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine angesichts von Russlands fortdauernder Aggression im Donbass und auf der Krim’. (FAZ, 3.4.21) Der ukrainische Außenminister reist nach Brüssel und nimmt den Partnerschaftsvertrag mit der NATO in Anspruch, als wäre die Ukraine bereits Mitglied und alle Mitglieder zur militärischen Unterstützung verpflichtet – und erntet die geschlossene Zurückweisung der NATO-Partner. Frankreich und Deutschland, die Garantiemächte des Minsker Abkommens, fordern explizit von allen Seiten Zurückhaltung und sofortige Deeskalation (FAZ, 6.4.21), und die NATO-Ukraine-Kommission spendet der Ukraine ein unwillkommenes Lob für ihre angebliche „Zurückhaltung“: (FAZ, 14.4.21) Das alles im April 2021. Sich vom ukrainischen Revanchismus in den Krieg ziehen zu lassen, kommt für Amerika nicht in Frage. Die Dienste, für die Amerika die Ukraine und ihr Militär verplant hat, decken sich eben nicht mit den Zielen des aktuellen Präsidenten: Ihre Konfrontation mit Russland gestalten die USA schon selbst.
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Aktuelle Ereignisse: „Das russische Parlament will offenbar sehr zum Unbill der Ukraine und ihrer westlichen Partner Nägel mit Köpfen machen und wird sich kommende Woche mit Vorschlägen befassen, die ‘Volksrepublik Donezk’ und die ‘Volksrepublik Luhansk’ in der Ostukraine als Staaten anzuerkennen. Es gebe Sorgen um die Sicherheit der dort lebenden Russen, teilte Duma-Präsident Wjatscheslaw Wolodin am Freitag vor dem Treffen von Blinken und Lawrow mit.“ (orf.at 21.01.2011) Putin hat den Schutz der Russen in der Ukraine ausdrücklich als Fall für eine Intervention genannt.
Auf eine Stellungnahme des amerikanischen Präsidenten, die ziemlich unmissverständlich klargestellt hat, dass Amerika sich jede Eskalation vorbehält, sich aber natürlich nichts diktieren lässt und sich in dem Sinn auch nicht festlegt – diese Auskunft wurde zuerst als „Zurückweichen“ interpretiert und dann als „Missverständnis“ sprachgeregelt –; darauf hat sich nun der Präsident der Ukraine mit einer „Maßregelung“ gemeldet, um Biden an seine fiktiven Pflichten zu erinnern. Die Wortspende erinnert an einen seiner früheren Kollegen, an den seligen Karl Valentin:
Selenskyj auf Twitter, 20.1.2022: „Wir erinnern die Großmächte daran, dass es keine kleinen Angriffe und keine kleinen Nationen gibt. So wie es auch keine kleinen Opfer und keine kleine Trauer über den Verlust von geliebten Menschen gibt. Ich sage das als Präsident einer Großmacht.“ Valentin im Original: „Ich bin auf Sie angewiesen, aber Sie nicht auf mich! Merken Sie sich das!“ Inzwischen hat der Präsident der Ukraine – auch im Verhältnis zu den USA wedelt eben nicht der Schwanz mit dem Hund – Sanktionen verhängt, ganz wie die großen Jungs: Gegen einige Wiener Architekten.
„Russland auf der anderen Seite hat Mitte Dezember Forderungen nach neuen Sicherheitsgarantien öffentlich präsentiert. Die heikelsten Punkte: Ein Nato-Beitritt der Ukraine soll ausgeschlossen werden; zudem soll das Bündnis alle militärischen Aktivitäten in Osteuropa aufgeben. Der Westen lehnt dies kategorisch ab, und selbst Experten in Moskau meinen, dass diese Forderungen illusorisch seien. … Russland hat nach den Gesprächen ein fehlendes Entgegenkommen der Allianz beklagt. Das Bündnis zeige keine Bereitschaft, die Sicherheitsinteressen anderer Staaten zu berücksichtigen, sagte der russische Vize-Außenminister Alexander Gruschko am Mittwoch in Brüssel vor Journalisten. Er warf der Nato eine Politik wie zu Zeiten des Kalten Krieges vor, als es dem Westen darum gegangen sei, die Sowjetunion klein zu halten. Russland werde sich dagegen wehren, betonte er.“ (Nach einem Treffen des NATO-Russland-Rates, Standard 12.01.2022)
Russland in Gestalt von Putin hat den also Konflikt mittlerweile auf eine sehr abstrakte, im Grunde genommen auf die allerhöchste Ebene positioniert: Er verlangt Sicherheitsgarantien für Russland, in Form einer nicht-nochmehr-Erweiterung der NATO nach Osten. Er stellt der Sache nach die sehr prinzipielle Frage: Sind die USA bereit, existentielle russische Interessen zu respektieren? Ist friedliche Koexistenz mit den USA möglich? Festgemacht an der Forderung, die Ukraine dürfe nicht in die NATO. Die amerikanische Antwort lautet, mal mehr, mal weniger diplomatisch, in der Tendenz jedenfalls eindeutig: Nein, friedliche Koexistenz ist nicht möglich. Das ist schon bemerkenswert, wenn man die letzten 30 Jahre halbwegs in Erinnerung hat: Die Sowjetunion hat ihr ökonomisches System aufgegeben, hat auf Marktwirtschaft umgestellt, und ihre Bündnisse aufgelöst. Und nach 30 Jahren Niedergang, nachdem das frühere „System“ alles system-mäßige selbst zu Grabe getragen hat, ist man wieder im Kalten Krieg gelandet. Die „Territoriale Integrität“ und die „Souveränität“ Russlands beruht auf der atomaren Abschreckung, und auf sonst nichts, ganz wie früher die der Sowjetunion. Es stimmt offenbar nicht, dass das frühere „System“ unerträglich war, für den Westen; die Aufgabe dieses Systems hat das heutige Russland brutal geschwächt, ökonomisch und militärisch, hat ihm aber nicht die Anerkennung des Westens gebracht. Was legitime russische Interessen sind, definiert nicht Russland, das bestimmen die USA. Momentan etwa ist die Dislozierung russischer Soldaten innerhalb der russischen Grenzen genehmigungsbedürftig, wenn es nach den USA geht. Warum ist das so?
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Das liegt an der US-amerikanischen Doktrin der begrenzten Souveränität aller Staaten. Diese Doktrin der begrenzten Souveränität trägt den offiziellen Titel „Kampf für die Freiheit auf der ganzen Welt“, und hat ihre geografischen und institutionellen Stichworte und Denkmäler. Um mit geografischen Stichworte zu beginnen, da wäre mal Vietnam zu nennen – der prominente Fall, an dem die ordentliche, die korrekte Entkolonialisierung durchgefochten wurde, nachdem die dortigen Kommunisten unter Ho Chi Minh den Krieg gegen Frankreich gewonnen hatten und auf die inakzeptable Idee kamen, es mit Sozialismus versuchen zu wollen. Ähnlich die Unabhängigkeit von Angola und Mosambik, wo linke Befreiungsbewegungen nach dem Abzug Portugals an die Macht kamen; damals durfte sich Südafrika samt Apartheid als Subimperialist betätigen. Man darf sich auch an einen gewissen Mossadegh erinnern, damaliger Premierminister des Iran, der von CIA und MI6 durch einen Putsch gestürzt wurde – es gab Streit über die Verstaatlichung der dortigen Ölquellen, womit der Mann seine begrenzten Befugnisse überschritten hatte. Danach führte der „Schah von Persien“ zur Zufriedenheit der USA die Geschäfte, der wurde aber von einer islamischen Revolution verjagt. Seither steht die dortige Islamische Republik unter einer Kriegsdrohung der USA und wird von einem verdeckten, „hybriden“ Feldzug geschädigt. Eine ähnliche Gestalt wie Mossadegh ist übrigens der damalige kongolesische Politiker Lumumba. In die Liste gehört natürlich auch Chile, mit seinem amerikanisch inspirierten Militärputsch gegen den gewählten Präsidenten, auch Nicaragua, wo eine linke siegreiche Aufstandsbewegung gegen den dortigen US-Statthalter durch einen US-gestützten Terrorismus zermürbt und letztlich erledigt wurde. Im Rahmen der unvermeidlichen Rebellionen gegen die Gringos kann sich Kuba noch immer halten, Venezuela soll wirtschaftlich stranguliert werden. Apropos Lateinamerika! Die liebevolle Bezeichnung „Hinterhof“ ist die dort übliche Kategorie der „Doktrin der begrenzten Souveränität“, sie drückt ja unmittelbar den Besitzanspruch aus, praktisch durchgeführt in vielen Interventionen, u.a. in Panama oder Grenada. Die Liste ist sicher nicht komplett. Eine andere, mehr zeitgenössische Kategorie der „begrenzten Souveränität“ ist der „Regimewechsel“, also die Entfernung einer aus US-Sicht unpassenden Regierung und ihre Ersetzung durch ein Regime, das den Wünschen des jeweiligen Volkes gerecht wird, indem sie einen amerikanischen Satellitenstaat beaufsichtigt. Einschlägige Beispiele sind der Irak, Afghanistan, Libyen, auch Syrien. Die Ergebnisse sind zum Teil unbefriedigend für die Aufsicht der USA, andererseits darf gerade der Regimewechsel in der Ukraine 2014 als Erfolg gelten.
Ein anderes Stichwort für diese Doktrin lautet „Massenvernichtungswaffen“. Das war bekanntlich der Vorwand für einen der Kriege gegen den Irak, und der Witz an dem Vorwurf besteht nicht darin, dass es sich um eine allseits bekannte Lüge handelt. Man muss den Vorwurf schon für sich nehmen und würdigen, er besteht darin, dass da ein Staat (wenn auch nur angeblich) versucht hat, sich wirksame Waffen zu besorgen, Waffen, mit denen auch Amerika nicht einfach im Rahmen einer besseren Polizeiaktion fertig wird; Waffen, die auch die USA in Rechnung stellen müssen: Im Klartext ist der Vorwurf „Massenvernichtungswaffen“ der Anspruch auf ein amerikanisches Recht auf Wehrlosigkeit angefeindeter Regimes. Andere Staaten sollen gar nicht erst in die Lage kommen dürfen, der US-Kriegsmaschinerie ernstliche Probleme zu machen. Das bekanntlich auch der Vorwurf an Nordkorea, dort ist man glatt auf die Idee gekommen, nur damit – halbwegs – die eigene Souveränität gegen die US-Doktrin von der „begrenzten“ behaupten zu können. (Das war jetzt eine politische und keine völkerrechtliche Beurteilung. Welche Staaten sich welche Massenvernichtungswaffen genehmigt, und anderen Staaten verboten haben, entnimmt man den einschlägigen UN-Abkommen.)
Eine etwas aus der Mode gekommene Bezeichnung für die Doktrin der begrenzten Souveränität ist übrigens der gute, alte „Weltpolizist“. Das darin transportierte Bild, der Polizist mache sich uneigennützig um eine allgemeine Ordnung im Interesse der Völkerfamilie verdient, das Bild hat sich spätestens mit „america first“ erledigt. Genau das – dieses Kriegführen immer im Interesse der Freiheit der Völker, gegen die der Krieg geführt wurde! – diese Uneigennützigkeit soll ja der große Fehler gewesen sein, der zum Niedergang der USA geführt hat, wenn man Donald Trump glauben darf. Eine ebenfalls unzeitgemäße Kategorie ist der damalige Vorwurf an die Sowjetunion, die Welt bzw. Europa „geteilt“ zu haben, der Vorwurf setzt natürlich den Anspruch auf die ganze Welt voraus; und der Ostblock war der Oberaufsicht der USA tatsächlich entzogen.
Quellen:
https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/ukraine-den-zeiten-corona
https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/ukraine-szenerie-eines-drohenden-kriegsausbruchs-produziert