Eine alte Weisheit aus dem Talmud besagt: “Wer ein Leben rettet, der rettet die ganze Welt.” Und es ist wohl nicht schwer vorzustellen, wie angenehm es sich leben ließe in einer Welt, die ringsum von lauter Beschützenden und Lebensrettern bevölkert ist. In einer Welt, in der “das Lebendige” allgemein als “der höchste Wert” angesehen wird – und in der mit jeglichem Leben achtsam, pfleglich und respektvoll umgegangen wird. Mit unser aller wie mit dem der gesamten Natur, deren unabtrennbarer Teil wir nun einmal sind. Was könnte Kunst dazu beitragen oder “Kunnst die Welt retten?” – in diesen Zeiten voller Kriegswahnsinn, Klimakrisen, Konsumkolionalismus und Coronaviren? Wir machen eine Sendung über Gedichte weil wir glauben “Poesie kann Leben retten.”
“Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch.”
“Man kann Dichter sein, ohne auch irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben.”
“Gedichte können in jeder noch so absurd schlechten Lebenssituation entstehen – und vielleicht sogar helfen, weil sie einen kleinen roten Faden um sich selbst spinnen.”
“Wir sitzen im Publikum, reglos. Stille saust, wie die Kugel, die uns verfehlt hat – ”
Poesie, das sorgfältig überlegte Auswählen und Zusammenstellen von verschiedenen Elementen zu einem größeren Ganzen, um damit etwas zu verdeutlichen, kann zu einer Insel der Zuflucht werden, wenn um uns her ein Meer aus Mehrwert und Mehrdeutigkeit tobt. Wenn aus nicht einsehbaren Gründen seine Wut der Vernichtung über uns herein bricht, wenn der stille Sog des Verzweifelns uns nach innen zieht in ein haltloses Nichts und wir Schiffbruch erleiden mit all unserem bisher als sicher Geglaubten. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter lässt sich eben auch so begreifen, dass das Gerettetwerden aus höchster Not genauso zu unserer Natur gehört wie das Retten. Dann heißt es nicht nur “Sei barmherzig zum Anderen und hilf!”, sondern auch: “Sei barmherzig zu dir und wisse, dass du Hilfe brauchst.” Beides stimmt (je nachdem, wer da in welcher Situation angesprochen wird), weil es auf das Menschseins an sich zutrifft. So wie: „Das Leben ist seinem inneren Wesen nach ein ständiger Schiffbruch. Aber schiffbrüchig sein heißt nicht ertrinken. Das Gefühl des Schiffbruchs, da es die Wahrheit des Lebens ist, bedeutet schon die Rettung. Und darum glaube ich einzig an die Gedanken Scheiternder.“ José Ortega y Gasset
Da trifft es sich trefflich, dass der uns benachbarte Skulpturenpark schon bald neu gestaltet sein wird (am 11. Juni wird seine Neueröffnung sein). Unter anderem mit einer Installation von Lea Anders (Einkleidung), die den Umgang des Menschen mit der Natur hinterfragt. Was kann Kunst? Nun, einerseits die besagte Insel (also Rettung) für Kunstschaffende selbst sein, anderseits in Resonanz treten mit anderen Menschen, deren Gefühle und Gedanken berühren, zum Schwingen bringen sowie ihr Leben an die eigene Lebendigkeit erinnern. Das müsste Rettung genug sein – medizinisch nennt man derlei Wiederbelebung. Ein Mensch gerettet (oft sogar mehrere) vor dem inneren Verfall des Unberührtseins und dem damit einhergehenden Herumschlurfen als ein irgendwie lebloses Programm. Dem aufs Funktionieren ausgerichteten Abrichten von Menschenkindern (das für uns nichts anderes als eine institutionell organisierte Lebendigkeitsaustreibung bedeutet) treten wir mit unserer Poesie entgegen. Kunnst!
Wir brauchen eine poetische Revolution …