Selenskyjs Welt

Подкаст
Kein Kommentar
  • Die Familie: Die Unzufriedenheit mit den herrschenden Deutungen
    28:53
  • Selenskyjs Welt
    51:26
audio
24:29 хв.
Linker Nationalismus heute – so bescheuert wie damals
audio
24:57 хв.
Antworten auf die FPÖ (Teil II)
audio
22:57 хв.
Linke und andere Antworten auf die FPÖ
audio
23:07 хв.
Zum prognostizierten Erfolg der FPÖ
audio
22:56 хв.
Nationale Identität im richtigen Leben
audio
23:19 хв.
Nationale Identität im Zeitalter der Globalisierung
audio
22:36 хв.
Die Ansprüche eines Volkskanzlers an sein geliebtes Volk
audio
23:58 хв.
Zum Vorwurf des Völkermords an Israel
audio
22:05 хв.
Die Wahl – und warum gerade Populisten so scharf drauf sind
audio
23:55 хв.
Was macht so ein „Volkskanzler“ – im Unterschied zu einem Bundeskanzler?

Am Mikrofon ist Herbert Auinger, und was jetzt kommt, ist nach den „Richtlinien von ORANGE 94.0, Punkt 1.2.3.6“, ein sog. „Meinungskommentar“, das bedeutet, es könnenÄußerungen subjektiver und wertender Art enthalten“ sein;von dem Meinungskommentator muss dennoch erwartet werden, dass er sich seine Meinung aufgrund zuverlässiger Quellen und Informationen bildet, mit möglichst stichhaltigen Argumenten begründet und in fachlich qualifizierter Weise darlegt.“ (Richtlinien) Kein Problem. Vielmehr selbstverständlich.

Heute gibt es über weite Strecken eine Lesung. Vorgelesen wird aus einem Artikel des Schweizer Wochenmagazins „Die Weltwoche“ vom 26. Mai 2022; aber dabei belasse ich es natürlich nicht – etliche Zusatzkommentare sind da schon fällig. Der Text ist ein Porträt des ukrainischen Präsidenten – Selenskyjs Welt. Der Westen jubelt ihm zu, die Massen himmeln ihn an. Aber wer ist eigentlich Wolodymyr Selenskyj, der Politiker hinter dem Helden?“ –, also ein durchaus übliches journalistisches Genre. Ich mache mich mal an die kommentierte Lektüre – und am Schluss gibt es noch eine extra-Pointe, die den höheren Sinn des Unterfangens enthüllt. Das Porträt geht los mit einer Referierung einiger Lobeshymnen:

Selenskyjs Welt

«Held der Freiheit», «Hero of Our Time», «Der Unbeugsame», «The Unlikely Ukrainian Hero Who Defied Putin and United the World», «Selenskyj, Ukraine in Blood»: Westliche Medien und Politiker können kaum noch Superlative finden, um das Loblied auf den ukrainischen Präsidenten zu singen, so stark gebannt sind sie von der «atemberaubenden Widerstandsfähigkeit» des Komikers, der auf wundersame Weise zum «Kriegsherrn» und «Retter der Demokratie» geworden ist. Seit drei Monaten beherrscht das ukrainische Staatsoberhaupt die Schlagzeilen von Zeitschriften, eröffnet Nachrichtensendungen, läutet das Filmfestival von Cannes ein, beschwört Parlamente, lobt und ermahnt seine Kollegen, die zehnmal mächtigeren Staaten als er vorstehen – und zwar mit einer Freude und einem taktischen Gespür, die kein Filmschauspieler und kein politischer Führer vor ihm je gekannt haben. … Seit dem 24. Februar hat Wolodymyr Selenskyj zweifelsohne den Nachweis erbracht, dass er ein ungewöhnlich begabter Künstler der internationalen Politik ist. Für diejenigen, die seine Karriere als Komiker verfolgt hatten, war dies auch keine Überraschung, weil sie seinen angeborenen Improvisationsgeist, seine pantomimischen Fähigkeiten und seine kühne Spielweise bereits kannten. … Doch wie so oft gleicht die Fassade nur selten den Kulissen. Das Rampenlicht verbirgt mehr, als es zeigt. Und hier muss man leider auch feststellen, dass das Bild nicht so glänzend ist: Sowohl seine Leistungen als Staatsoberhaupt als auch jene als Verteidiger der Demokratie lassen zu wünschen übrig.“

Soweit die Einleitung, die Erinnerung an das herrschende Bild, samt Andeutung, dass auch hier nicht alles Gold ist, was glänzt. Gut, eine erste kleine Ergänzung meinerseits: Die Popularität des Präsidenten im Westen liegt nicht an seinen überbordenden Talenten, sondern an der überbordenden westlichen Begeisterung an einer Ukraine, die als ein Kriegsschauplatz herhalten muss, an dem in dem sich Russland nunmehr seit über drei Monaten ziemlich festgefahren hat. Das westliche Interesse an der Schwächung Russlands auf Kosten der Ukraine macht den Mann so populär. Wenn dem nicht so wäre, wäre er längst als Angeber entlarvt und eingeordnet worden. Weiter im Text:

Ein Talent fürs Doppelspiel ließ Selenskyj gleich nach seiner Wahl erkennen. Als er bekanntlich mit 73,2 Prozent der Stimmen gewählt wurde, versprach er, er werde der Korruption ein Ende setzen, die Ukraine auf den Weg des Fortschritts und der Zivilisation führen und vor allem Frieden mit den russischsprachigen Bewohnern des Donbass schließen. Gleich nach seiner Wahl brach er alle seine Versprechen derart eifrig, dass seine Beliebtheitswerte im Januar 2022 auf 23 Prozent absackten und er sogar hinter seine beiden Hauptkonkurrenten zurückfiel.“

Selenskyjs Leistungen:
Korruption

Ja mein Gott, der brave Mann hat, wie seine Vorgänger und seine Konkurrenten, lauter Sachen versprochen, die er gar nicht halten konnte, so dass das Wahlvolk in der Ukraine seiner schnell überdrüssig wurde – sowie es auch allen seinen Vorgängern ergangen ist. Da kann man im Grunde nicht einmal von einem talentierten „Doppelspiel“ reden, eher von stinknormaler Demokratie, der Abfolge von Hoffnung und Enttäuschung. „Korruption“ bezeichnet in der Ukraine nämlich nicht eine Ausnahme von der Regel, wie das hierzulande zumindest angenommen wird – die ÖVP lässt herzlich grüßen –, sondern eine Eigenart von ukrainischer Politik und Ökonomie; gemeint ist die Verschmelzung von politischer und ökonomischer Macht, indem die als Oligarchen bekannten Unternehmer sich ihre Abgeordneten, ihre Parteien und auch ihre bewaffneten Milizen und ihre Medien halten, und darüber die Politik nach ihren Interessen dirigiert haben, natürlich auch in Konkurrenz zueinander. Selenskyj ist als Nutznießer dieser Mechanismen und mit ihrer Hilfe an die Macht gekommen, wie und warum sollte er etwas dagegen unternehmen?

Auch gehört Selenskyjs Hauptsponsor Ihor Kolomoysky … zu den Oligarchen, die von der grassierenden Korruption profitieren: Am 5. März 2021 gab Anthony Blinken … bekannt, das Außenministerium habe sein Vermögen gesperrt und ihn aus den USA verbannt, weil er «in eine bedeutende Korruptionshandlung verwickelt» sei. Kolomoysky wurde vorgeworfen, 5,5 Milliarden US-Dollar von der staatlichen Privatbank veruntreut zu haben. … Kolomoysky, der in Israel zur Persona non grata geworden ist und laut Zeugenaussagen nach Georgien geflohen ist, läuft nicht Gefahr, in den Zeugenstand zu müssen. Kolomoysky hat Selenskyjs gesamte Schauspielkarriere geprägt und ist auch in die im Oktober 2021 von der Presse aufgedeckte Affäre um die «Pandora Papers» verwickelt. Aus diesen Unterlagen ging hervor, dass der dem berüchtigten Oligarchen gehörende Fernsehsender 1+1 seit 2012 insgesamt nicht weniger als 40 Millionen US-Dollar an seinen Star Selenskyj gezahlt hatte. Und kurz vor seiner Wahl zum Präsidenten soll er (Selenskyj) … beträchtliche Summen auf Offshore-Konten überwiesen haben, die auf den Namen seiner Frau eröffnet worden waren. Gleichzeitig soll er drei nicht angemeldete Wohnungen in London für 7,5 Millionen US-Dollar erworben haben.“

So die „Weltwoche“ zur Figur des Präsidenten, ganz allgemein sieht es im Land so aus:

In Sachen Korruption sieht die Bilanz nicht erfreulich aus. 2015 war die Ukraine nach Einschätzung des Guardian das korrupteste Land Europas. Im Jahr 2021 wies Transparency International, eine westliche NGO mit Sitz in Berlin, der Ukraine den 122. Platz in der weltweiten Korruptionsrangliste zu, nah beim verhassten Russland (136. Platz). Keine Glanzleistung für ein Land, das angesichts der russischen Barbareien als Inbegriff der Tugend gelten soll. Korruption ist allgegenwärtig, in Ministerien, Behörden, öffentlichen Unternehmen, im Parlament, bei der Polizei und sogar beim Hohen Gericht für Korruptionsbekämpfung, wie die Kyiv Post berichtet.“

Warum diese allgemein bekannten Geschichten von ukrainischer Korruption? Nun, der Witz ist in dem einen Satz gesagt: „Keine Glanzleistung für ein Land, das angesichts der russischen Barbareien als Inbegriff der Tugend gelten soll.“ Die Darstellung der Ukraine und ihres Präsidenten in den europäischen Leitmedien orientiert sich halt am edlen Zweck, die Ukraine als Inbegriff westlicher Werte darzustellen – und weil es um ein zu malendes Freundbild geht, fallen die durchaus bekannten Leistungen des Präsidenten im Umgang mit offshore-Konten auch mal unter den Tisch. Die Berechnung liefert eine Webseite namens „ukraineverstehen.de“ in aller Offenheit: „Dieser Text ent­stand vor Putins bru­ta­lem Über­fall auf die Ukraine. Im Krieg hat Wolo­dymyr Selen­skyj beein­dru­cken­des Format bewie­sen und ist mit seiner Regie­rung zum Anker für Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner im Frei­heits­kampf gegen Putins per­fi­den Über­fall gewor­den. Alle Kritik an seiner Politik aus der Zeit vor dem Angriff auf sein Land ist ange­sichts der aktu­el­len Situa­tion bedeu­tungs­los geworden.“

Warum denn „bedeutungslos“? Es soll eben gar nicht erst der Verdacht aufkommen, dass da zwei innenpolitisch ähnlich strukturierte Staatswesen aufeinander krachen, daher die eben nicht hochgespielte, sondern auszublendende Info über Steueroasen und Immobilien. Dazu zwei weitere Ergänzungen: Die eigentliche Leistung Selen­skyjs ist nicht die seine – es ist die bizarre Leistung der Leute, die sich ihr Leben ohne Selen­skyjs Herrschaft von Kiew aus über die ganze Ukraine nicht vorstellen wollen, und die bereit sind, dafür ins Gras zu beißen. Und zweitens hängt die Unterstützung des Westens ohnehin nicht am edeldemokratischen Charakter der Ukraine oder am persönlichen „Format“ ihres Präsidenten; dass es gegen Russland geht und sich die Leute dafür verheizen lassen, wenn sie für Selen­skyj kämpfen, das genügt völlig. Deswegen erfüllt die westliche Publizistik ihre Pflicht beim Moralisieren, bei der Feind- bzw. der Freundbildmalerei – daher huldigt man implizit und auch mal explizit der Aufgabe der Propaganda und der Manipulation durch selektive Berichterstattung.

Selenskyjs Leistungen:
Wirtschaftspolitik

Zur Befriedigung seiner oligarchischen Geldgeber startete der neugewählte Präsident bereits im Mai 2019 ein massives Bodenprivatisierungsprogramm, das 40 Millionen Hektar gutes Agrarland umfasste – unter dem Vorwand, das Moratorium für den Landverkauf habe das Bruttoinlandprodukt (BIP) des Landes um Milliarden Dollar geschmälert. Im Rahmen der seit dem Staatsstreich vom Februar 2014 eingeleiteten «Entkommunisierungs- und Entrussifizierungs-Programme» leitete er eine großangelegte Kampagne ein, um Staatseigentum zu privatisieren, Haushaltskürzungen vorzunehmen, die Arbeitsgesetze zu deregulieren und die Gewerkschaften zu entmachten, was eine Mehrheit der Ukrainer verärgerte, die nicht verstanden, was ihr Kandidat mit «Fortschritt», «Verwestlichung» und «Normalisierung» der ukrainischen Wirtschaft eigentlich meinte. Das Land kam 2020 nur noch auf ein Pro-Kopf-Einkommen von 3726 US-Dollar, Russland dagegen auf 10126 US-Dollar. Das war kein schmeichelhafter Vergleich, umso weniger als die Ukraine 1991 noch ein höheres Durchschnittseinkommen verzeichnet hatte als Russland. Verständlich, dass die Ukrainer diese zigste neoliberale Reform nicht bejubelten.“

Klar, das Pro-Kopf-Einkommen ist ein Durchschnittswert, aber auf seine Art doch aufschlussreich, vor allem, was den Vorbildcharakter der Ukraine betrifft. Auch zur hier skizzierten Wirtschaftspolitik noch eine Ergänzung, weil da keineswegs nur die ukrainischen Oligarchen Druck machten: Bereits im Oktober 2019 hob Selenskyj ein Moratorium auf, um über 1000 staatliche Unternehmen privatisieren zu dürfen. Die USA, die EU und der Internationale Währungsfonds hatten diese Maßnahme lange gefordert. … Selenskyj setzte im April 2020 eine Bodenreform durch. Damit sollte das Moratorium von 2001, das den Kauf und Verkauf von ukrainischem Agrarland verboten hatte, aufgehoben werden. … Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte bereits 2018 gefordert, den Bodeneigentümern vollere Rechte zu geben. Der Internationale Währungsfonds machte die Bodenreform zu einer Bedingung für weitere Kredite.“ (wikipedia. Wolodymyr Selenskyj)

Das Eigentum ist bekanntlich ein ganz wichtiges Menschenrecht, urteilt da der Europäische Gerichtshof für die Menschenrechte; es sei denn, man ist heutzutage Russe mit ordentlichem Eigentum außerhalb Russlands – dann ist die Geschichte mit dem Menschenrecht auf Eigentum etwas durchwachsen und die Enteignung steht möglicherweise an.

Selenskyjs Leistungen:
Frieden mit dem russischsprachigen Donbass

Was den Marsch in Richtung Westen angeht, so bekam dieser die Form eines weiteren Erlasses, der am 19. Mai 2021 die Vorherrschaft der ukrainischen Sprache sicherte und das Russische aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens, Behörden, Schulen und Geschäften verbannte – zur großen Zufriedenheit der Nationalisten und zum Erstaunen der russischsprachigen Bevölkerung im Südosten des Landes.“

Das war die Fortsetzung der begonnenen Ukrainisierung durch Entrussifizierung des Landes nach 2014, nachdem Separatisten den Osten des Donbass mit russischer Hilfe unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Die extremen Exponenten der hier angesprochenen „Nationalisten“ sind in den diversen rechtsradikalen und faschistischen Milizen organisiert, die nach 2014 in die ukrainische Armee eingegliedert wurden, u.a. das inzwischen bekannte Asow-Regiment, mitgegründet und mitfinanziert vom Paten Kolomoysky. Die Leute legen offenbar Wert darauf, ihre Gesinnung körperlich zur Schau zu stellen, es handelt sich um „Kämpfer, die – wie aus vielen nach deren Kapitulation verbreiteten Videos ersichtlich – an ihren Armen, Hälsen, Rücken beziehungsweise Brüsten Tätowierungen tragen, welche die Wolfsangel der SS-Division «Das Reich», Adolf Hitlers Sprüche oder Hakenkreuze verherrlichen.“ Auch diesem Thema widmet sich der Text in der „Weltwoche“.

Selenskyjs Leistungen:
Kooperation mit Rechtsextremisten

Die Annäherung des flamboyanten Wolodymyr an die extremsten Exponenten der ukrainischen nationalistischen Rechten ist aber nicht die geringste von Selenskyjs Eigenartigkeiten. Diese Komplizenschaft wurde von der westlichen Presse sofort aufs Heftigste bestritten und angesichts der plötzlich wiederentdeckten jüdischen Herkunft des Präsidenten als unerhört eingestuft. Wie kann es sein, dass ein jüdischer Präsident mit Neonazis sympathisiert, die im Übrigen als eine winzige Minderheit von Randständigen dargestellt werden?“

Wie das sein kann, erläutert der Artikel anschließend, auch hier eine Zwischenbemerkung: Der Hinweis auf ein wie auch immer beschaffenes Judentum des Präsidenten verrät mehr über den Beweisnotstand derer, die das erwähnen, als dass er einen Beweis liefert. Was soll denn das eigentlich heißen? Gilt da ein positiver Rassismus, wonach ein Jude politisch immer unverdächtig ist, egal, was er macht? Ist ein wie auch immer definiertes „Judentum“ ein unschlagbares Gütesiegel, unabhängig von der Politik des Präsidenten und seiner Kooperation mit Rechtsextremisten? Und gleich ein Gütesiegel für ein komplettes Staatswesen? Klar, Selenskyjs Adoranten haben da einen gewissen Bedarf an Gegenwartsklitterung, angesichts des russischen Narrativs von den ukrainischen Faschisten und der im Westen der Ukraine verbreiteten Verehrung des seinerzeitigen Nazi-Kollaborateurs und Faschisten Bandera, die halt so hervorragend zur Entrussifizierungspolitik passt. In Europa grassieren die Hitler-Putin Vergleiche, und währenddessen hantiert auch Russland mit der „Nazi-Keule“: An Material dafür mangelt es nicht, und mit den tatsächlichen Kriegsgründen hat die Feindbildmalerei wie immer nichts zu tun.

Und dennoch bleiben die Fakten unveränderlich und alles andere belanglos. Es gilt zweifelsohne, dass Selenskyj persönlich nie der Neonazi-Ideologie oder auch nur der ukrainischen nationalistischen extremen Rechten nahestand. Seine jüdische Abstammung, auch wenn diese vergleichsweise weit zurückliegt und bis Februar 2022 nie von ihm in Anspruch genommen wurde, schließt natürlich jeglichen Antisemitismus seinerseits aus. Diese Annäherung ist also nicht Ausdruck einer Affinität, sondern entspringt vielmehr der banalen Staatsräson und einer wohlverstandenen Mischung aus Pragmatismus und dem Instinkt des physischen und politischen Überlebens.

Um zu verstehen, wie die Beziehung zwischen Selenskyj und der extremen Rechten gestaltet ist, muss man zurückgehen bis Oktober 2019. Und man muss sehen, dass diese rechtsextremen Gruppierungen, auch wenn sie nur 2 Prozent der Wählerschaft ausmachen, immerhin fast eine Million hochmotivierter und gutorganisierter Menschen repräsentieren, die sich auf zahlreiche Verbände und Bewegungen verteilen, von denen das Regiment Asow (ab 2014 von Kolomoysky – immer er!, – mitgegründet und finanziert) lediglich die bekannteste ist. Nur der Vollständigkeit halber müssen wir hier noch Vereinigungen wie Aidar, Dnipro, Safari, Svoboda, Pravy Sektor, C14 und National Corps erwähnen. … Benannt nach der Anzahl der Wörter in dem Satz des amerikanischen Neonazis David Lane («We must secure the existence of our people and a future for white children»), ist C14 eine der im Ausland weniger bekannten, aber wegen ihrer rassistischen Gewalt in der Ukraine am meisten gefürchteten Gruppierungen. All diese Einheiten wurden auf Initiative ihres Anführers, des ehemaligen Innenministers Arsen Avakov, der von 2014 bis 2021 souverän über den ukrainischen Sicherheitsapparat herrschte, mehr oder weniger mit der ukrainischen Armee und der Nationalgarde verschmolzen. Sie sind es, die Selenskyj seit Herbst 2019 als «Veteranen» bezeichnet.

Nur wenige Monate nach seiner Wahl reiste der junge Präsident in den Donbass, um sein Wahlversprechen einzulösen und das von seinem Vorgänger unterzeichnete Minsker Abkommen umzusetzen. Die rechtsextremen Kräfte, welche die Städte Donezk und Luhansk seit 2014 zum Preis von 10 000 Toten beschossen hatten, begegneten ihm mit äußerster Vorsicht, weil sie diesem «friedliebenden» Präsidenten schlicht misstrauten. Sie verfolgen einen rücksichtslosen Feldzug gegen den Frieden unter dem Motto «keine Kapitulation».

In einem Video sieht man einen bleichen Selenskyj, der sie anfleht: «Ich bin der Präsident dieses Landes. Ich bin 41 Jahre alt. Ich bin kein Verlierer. Ich komme zu euch und sage: Zieht die Waffen zurück.» Nachdem das Video in sozialen Netzwerken veröffentlicht wurde, wurde Selenskyj sofort zur Zielscheibe einer Hasskampagne. Dies war das Ende seiner Bemühungen um Frieden und die Umsetzung des Minsker Abkommens. Kurz nach diesem Zwischenfall kam es zu einem vorübergehenden Rückzug der extremistischen Kräfte, doch dann wurden die Bombardements wieder aufgenommen.

Das Problem besteht darin, dass Selenskyj nicht nur ihrer Erpressung nachgegeben hat, sondern sich ihnen auch in ihrem nationalistischen Kreuzzug angeschlossen hat. Nach seiner gescheiterten Expedition im November 2019 empfing er mehrere Anführer der extremen Rechten, darunter Yehven Taras, den Anführer der C14, während sein Premierminister sich neben Andryi Medvedko zeigte, einer Neonazi-Figur, die unter Mordverdacht steht. Die Zusammenarbeit mit radikalen Nationalisten ist fest etabliert. Letzten November ernannte Selenskyj den ultranationalistischen Dmytro Yarosh von Pravy Sektor zum Sonderberater des Oberbefehlshabers der ukrainischen Armee und im Februar 2022 zum Chef der Freiwilligenarmee, die im Hinterland souverän für Terror herrscht. Er hat seine Macht innenpolitisch an Extremisten und außenpolitisch an die Nato abgetreten.“

Wieder eine Zusatzbemerkung: Man muss das alles nicht so sehr verrätseln oder so tun, als gäbe es da jenseits der politischen Lage einen großen Erklärungsbedarf. Russland begründet seinen Krieg auch mit dem Schutz des russischsprachigen Teil der Bevölkerung. Insofern steht beim ukrainischen nation-building jetzt endgültig der Kampf gegen oder gleich die Ausmerzung unsicherer Kantonisten oder Verräter an, und da sind die Rechtsextremisten ohne Zweifel die Fanatiker dieser Ukrainisierung, die ja nicht nur Russen betrifft. Wikipedia listet in der Ukraine 10 Ethnien auf. Wenn die Devise lautet „Ukraine first“, „to make Ukraine great again“, dann ergeben sich daraus sehr folgerichtig die gegenwärtigen völkischen Feindschaften. Das, was Ukraine-Verehrer gern als liebenswürdige, multikulturelle Vielvölkeridentität dieses netten Staates preisen, stellt sich für Hardcore-Nationalisten genau umgekehrt dar. Wiederhole einen Bericht im Kurier vom 24. April 2022:

`Die Ukraine den Ukrainern, Ehre der Nation! Tod den Feinden, tötet die Ungarn!´ Drohungen wie diese erhielten zahlreiche in der Ukraine lebenden Ungarn zu Beginn des Krieges.“ Ungarn hat die ungarische Minderheit ähnlich wie Russland im Osten mit eigenen Pässen ausgestattet, und als Hebel eigener Einflussnahme benutzt oder es versucht. „Ungarn stellt sich gegen Öl- und Gas-Sanktionen gegen Russland, weigert sich, Waffenlieferungen durch das Land zu lassen. … Ungarns Beziehung zur Ukraine ist eine angespannte – nicht erst seit des russischen Angriffskrieges … `Der Konflikt ist so alt wie der Nationalismus selbst´, erklärt Erin K. Jenne von der Central European University (CEU).“ (ebd.) Von den 130000 Ungarn in der Westukraine sind angeblich seit Kriegsbeginn etwa 30000 geflüchtet, auch Männer, um der Einberufung zu entkommen. Ungarn „unterstützt die Auslandsungarn finanziell und sichert sich dadurch Einfluss, lautet der Vorwurf von Kiew. `Die ungarische Minderheit wird deswegen als feindlicher, illoyaler Teil der Bevölkerung gesehen´, so die Forscherin. Die Fronten verhärteten sich, als die Ukraine 2017 ein Gesetz verabschiedete, das Ungarisch als Unterrichtssprache ab der fünften Klasse verbot. Ungarn sah das als Angriff auf die eigene Nationalität …“ (ebd.) Wie im Osten die russische, ist im Westen die ungarische Minderheit ein Ärgernis. Insofern ist das Bündnis Selenskyjs mit Ultranationalismus und Rechtsextremismus sehr sachgerecht. Kleine Anekdote: Die Eingliederung der rechtsradikalen, nationalistischen, faschistischen Milizen in die Armee wird bei Gelegenheit allen Ernstes als Form von deren Entmachtung oder Zivilisierung gehandelt, statt als das, was sie ist – die Gelegenheit zur Entfaltung! Insofern ist der Satz in der „Weltwoche“, Selenskyj habe „seine Macht innenpolitisch an Extremisten und außenpolitisch an die Nato abgetreten“ nicht zutreffend: Denn alles, was die Ukraine militärisch vermag, verdankt sie der Nato, die den Krieg mit Lieferungen und Geheimdienstinformationen geradezu steuert. Da konnte Selenskyj keine Macht abtreten, weil er keine Macht hatte. Und mit den Extremisten, die er nie richtig unter Kontrolle hatte und die den Waffenstillstand im Donbass aus ihren Gründen gebrochen hatten, mit denen hat er sich aus verständlichen Motiven verbündet.

Selenskyjs Leistungen:
Säuberungen unter dem Kriegsrecht

Inzwischen säubert Selenskyj unter dem Kriegsrecht die politische Konkurrenz und die Medien; besser, er setzt die schon vorher laufenden Säuberungen radikaler fort:

Im selben Monat (Februar 2022) ernannte er Oleksander Poklad, welcher aufgrund seiner Vorliebe für Folter als «Würger» bekannt ist, zum Leiter der Spionageabwehr des ukrainischen Sicherheitsdiensts. Im Dezember, zwei Monate vor dem Kriegsbeginn, wurde ein weiterer Pravy-Sektor-Führer, Major Dmytro Kotsuybaylo, zum «Helden der Ukraine» ernannt, und eine Woche nach Beginn der Kämpfe ließ Selenskyj den Regionalgouverneur von Odessa durch Maksym Marchenko ersetzen, den Kommandeur des ultranationalistischen Bataillons Aidar …

War die extreme Rechte mit der Vergabe von Ämtern weichzuklopfen? Geteilter Ultrapatriotismus? Oder lediglich eine Zusammenführung der Interessen einer neoliberalen, atlantischen und prowestlichen Rechten und einer nationalistischen Rechtsextremen, die davon träumt, Russen zu zerschlagen und «die weißen Rassen der Welt in einem finalen Kreuzzug gegen die von den Semiten geführten Untermenschen anzuführen», wie es der ehemalige Abgeordnete Andryi Biletsky, Chef des Nationalkorps, formulierte? Man weiß es nicht genau, weil kein Journalist es gewagt hat, Selenskyj diese Frage zu stellen.“

Das sind alles sehr rhetorische Fragen, für deren Antwort man wirklich keinen Journalisten braucht, der sie Selenskyj abnötigt. Vor allem, weil die aufgelisteten Alternativen einander ergänzen, und nicht widersprechen. Auch die Maßnahmen, mit denen der Präsident seine Macht nach innen festigt, mit den passenden Methoden, sind keine offenen Fragen:

Was jedoch außer Frage bleibt, ist, dass sich das ukrainische Regime zunehmend autoritär und sogar kriminell verhält. Während die Medien wegschauen, sind lokale und nationale Politiker einer veritablen Kampagne der Einschüchterung, Entführung und Erschießung ausgesetzt. Ihr Vergehen besteht darin, mit dem Feind gemeinsame Sache zu machen, und sei es nur deshalb, weil sie eine Konflikteskalation verhindern wollten. Doch die Repression hört auch hier nicht auf. Sie richtet sich gegen kritische Medien, welche alle geschlossen wurden, und gegen Oppositionsparteien, welche alle aufgelöst wurden.

Im Februar 2021 liess Selenskyj drei oppositionelle Sender schließen, die als prorussisch galten und angeblich dem Oligarchen Viktor Medvedchuk gehörten: News One, Zik und 112 Ukraine. Das Außenministerium begrüßt diesen Angriff auf die Pressefreiheit mit der Erklärung, «die USA unterstützten die ukrainischen Bemühungen, dem bösartigen Einfluss Russlands entgegenzuwirken […]». Seit Beginn des Krieges drangsaliert die Regierung linke Journalisten, Blogger und Kommentatoren. Anfang April wurden auch zwei rechtsgerichtete Sender davon betroffen: Channel 5 und Pryamiy. Ein Präsidialerlass zwingt alle Sender dazu, nur eine einzige Meinung auszustrahlen, die regierungsfreundlich ist.“

Klar, auch das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit wurde schon lange vor Kriegsbeginn auf adäquate Weise konkretisiert, worüber sich Russland übrigens bei Gelegenheit bei den westlichen Hütern dieser hohen Werte wiederholt und erfolglos beschwert hat. Eine kleine Liste zum Stand der politischen Willensbildung:

Für politische Parteien fiel die Säuberung noch härter aus. Sie hat Selenskyjs wichtigste Gegner zurückgedrängt. Im Frühjahr 2021 wurde das Haus des führenden von ihnen, Medvedchuk, der als Putin-nah gilt, verwüstet und der Besitzer unter Hausarrest gestellt. Am 12. April wurde der oligarchische Abgeordnete zwangsweise an einen geheimen Ort interniert, offensichtlich unter Drogen gesetzt, im Fernsehen zur Schau gestellt und unter Missachtung aller Genfer Konventionen als Gegenleistung für die Freilassung der Verteidiger von Azovstal angeboten. Seine Rechtsanwälte wurden eingeschüchtert und mussten ihre Verteidigung zugunsten eines engen Vertrauten der Dienste aufgeben.

Letzten Dezember war es der in den Umfragen wieder aufsteigende Petro Poroschenko, der des Landesverrats beschuldigt wurde. Am 20. Dezember 2021 um 15.07 Uhr war der offiziellen Website des ukrainischen Sicherheitsdienstes zu entnehmen, dass er verdächtigt wurde, das Verbrechen des Landesverrats und jenes der Unterstützung terroristischer Aktivitäten begangen zu haben. Dem ehemaligen Präsidenten, der eigentlich ein ausgesprochener Anti-Russe war, wurde vorgeworfen, «die Ukraine energiepolitisch von Russland und den Führern der russisch kontrollierten Pseudo-Republiken abhängig gemacht zu haben».

Am 3. März wurden die Aktivisten der Linken Lizvizia vom ukrainischen Sicherheitsdienst überfallen und zu Dutzenden inhaftiert. Am 19. März kam es zu Repressionen gegen die gesamte ukrainische Linke. Per Dekret wurden elf linke Parteien verboten: Die Partei für das Leben, die Linke Opposition, die Progressive Sozialistische Partei der Ukraine, die Sozialistische Partei der Ukraine, die Union der linken Kräfte, die Sozialisten, die Sharyi-Partei, die Unsrigen, der Staat und der Oppositionsblock Volodymyr Saldos.

Es kam zu Verhaftungen und Folterungen anderer Aktivisten, Blogger und Menschenrechtsverteidiger, darunter auch des Journalisten Yan Taksyur, der Aktivistin Elena Brezhnaya, des MMA-Boxers Maxim Ryndovskiy und der Rechtsanwältin Elena Viacheslavova, deren Vater bei dem Pogrom am 2. Mai 2014 im Gewerkschaftshaus von Odessa verbrannte.“

Es geht also nicht nur gegen die bisherige Parteienkonkurrenz nach Oligarchenart, nicht nur gegen der Russenfreundschaft verdächtige Organisationen oder Personen, sondern ganz allgemein gegen unzufriedene politische Aktivisten und Idealisten der Menschenrechte, also gegen regierungskritische Protagonisten der Ideale, die die westlichen Medien der Ukraine unbedingt zugute halten wollen.

Um diese Liste zu vervollständigen, sollten wir noch die Männer und Frauen erwähnen, die von Nationalisten in den Straßen von Kiew in aller Öffentlichkeit entkleidet und ausgepeitscht wurden, die russischen Gefangenen, die geschlagen wurden und denen man vor der Hinrichtung in die Beine schoss, den Soldaten, dem man ein Auge durchstochen hatte, bevor man ihn tötete, die Mitglieder der georgischen Legion, die russische Gefangene in einem Dorf in der Nähe von Kiew hinrichteten, während ihr Anführer sich damit brüstete, niemals irgendwelche Gefangenen zu nehmen. Auf dem Kanal Ukraine 24 berichtet der Chef des Medizinischen Dienstes der Armee, dass er befohlen habe, «alle russischen Männer zu kastrieren, weil sie Untermenschen sind, die schlimmer als Kakerlaken sind». Schließlich greift die Ukraine massiv auf die Gesichtserkennungstechnologie der Firma Clearview zurück, um russische Tote zu identifizieren und ihre Fotos in russischen sozialen Netzwerken zu verbreiten und sie dabei lächerlich zu machen.“

Das Resümee lautet: „Das Problem der Ukraine liegt darin, dass ihr Präsident seine Macht innenpolitisch willentlich oder unwillentlich an Extremisten und außenpolitisch an das Nato-Militär abgetreten hat, derweil ihn die Massen auf der ganzen Welt anhimmeln.“ (Quelle: Die Weltwoche, Zürich, 26. Mai 2002)

Das ist Schade – dagegen noch einmal der Hinweis, dass der Präsident nichts abgetreten hat, weil er die militärische Macht nicht hatte, und weil er die, die er hat, sachgerecht ausübt. Schade, dass da ein Journalist, nachdem er sein Porträt beendet hat, trotz alledem dem Idealismus huldigt, das hohe ukrainische Präsidentenamt sei eigentlich viel besser und anspruchsvoller, als das, was der Präsident so macht. Eine kleine Gemeinheit kann er sich auch nicht verkneifen: War es nicht er, der am 5. März, zehn Tage nach dem russischen Einmarsch, gegenüber einem französischen Journalisten erklärte: «Heute ist mein Leben schön. Ich glaube, dass ich begehrt werde. Ich spüre, dass dies der wichtigste Sinn meines Lebens ist: begehrt zu werden. Zu spüren, dass man nicht bloß atmet, läuft und etwas isst. Man lebt!»“ Stimmt schon, der Mann ist begehrt und hat Grund zur Euphorie. Begehrt, aber als was? Er repräsentiert eben das ukrainische Menschenmaterial beim Krieg des Westens gegen Russland, bis zum letzten Blutstropfen!

Fazit:
Manipulation und Propaganda

Nun, es ist Zeit für des Rätsels Lösung oder wenigstens eine Erläuterung. Warum lese ich relativ ausführlich so einen Text vor, der analytisch ja nicht unbedingt in die Tiefe geht – muss er auch nicht, es handelt sich schließlich um ein Porträt. Nun, meines Erachtens ist das ein Stück stinknormaler Journalismus, nicht mehr und nicht weniger. Die Frage ist, warum man solche Einzelheiten etwa über die Rolle der rechtsextremen Milizen und die innenpolitischen Säuberungen, warum man solchen stinknormalen Journalismus in den europäischen Mainstream-Medien nicht zu Gesicht bekommt. Auch und erst recht nicht in den österreichischen Qualitätsmedien, die ansonsten keine Gelegenheit auslassen, Rechtsextremisten oder Neonazis zu entdecken und zu entlarven, sogar in den USA, und dort solche mit Affinität zum Ex-Präsidenten. Die Antwort war schon formuliert. Die Öffentlichkeit ist parteiisch, bekennt sich zur Parteilichkeit und schreibt bzw. kommentiert auch so. Man versteht die eigene Tätigkeit nicht als Berichterstattung, sondern als Beteiligung, als publizistisches Mitkämpfen. Die tapferen Frauen und Männer in den Redaktionen sind sozusagen auch auswärtige Kämpfer, quasi Legionäre für die gute Sache – gibt ja Verrückte, die den Imperativ „wir müssen etwas tun“ so praktizieren, dass sie in Richtung Ukraine aufbrechen und kämpfen wollen. Dieser Geist bestimmt die Berichterstattung. Nachdem die wirklichen Machthaber die Parole von der Ukraine als Bastion westlicher Werte vertreten, und die Kriegsbeteiligung des Westens als darauf beruhende Pflicht, wird also erstens an einem entsprechenden Bild der Ukraine gezeichnet, und zweitens betätigen sich die führenden Meinungsmacher als publizistische Sittenwächter, die allfällige Abweichler gleich als Putin-Versteher oder Putin-Trolle niederbügeln möchten, was diese Auseinandersetzungen so übersichtlich und unkompliziert macht. Als ob mit dem Verdikt „Putin-Versteher“ irgendetwas kritisiert oder auch nur thematisiert wäre. Eine Zensur braucht also nicht stattzufinden, und dort, wo die wirklichen politischen Sittenwächter sie für sinnvoll befinden, dort wird sie auch ganz traditionell ausgeübt. Ein Verbot, „Feindsender“ zu hören, wie seinerzeit, ist also überflüssig, wenn die Feindsendungen wie „Russia Today“ einfach nicht mehr ausgestrahlt werden dürfen, weil es sich, gemessen an den je eigenen Desinformationsbedürfnissen, um „Desinformation“ handelt. Schon ein wenig putzig – da erklären sich Medien erst zu Kriegsteilnehmern an der Informationsfront, und bestehen zumindest teilweise nichtsdestotrotz auf Objektivität und Sachlichkeit, wenn sie, wie der Maler Helnwein im „profil“ moniert hat, selektiv berichten. „Helnwein: Orwell hat gesagt, die mächtigste Lüge sei die Auslassung … So funktioniert Propaganda am effektivsten.“

Das muss übrigens nicht unbedingt sein, zweckmäßiges, berechnendes Moralisieren geht auch anders. Die von der „Weltwoche“ geschilderten ukrainischen Gräueltaten lassen sich allemal als sicher bedauerliche, aber doch „verständliche“ Gräueltaten angesichts des Hasses und der Verbitterung durch die russische Soldateska darstellen und einordnen. Die hier in Anspruch genommene Moral ist in sich und aus sich im Kern gesinnungslos. Moralisch rechtfertigen lässt sich alles – und bei Bedarf das jeweilige Gegenteil auch. Dazu noch ein Beispiel aus orf.at vom 26. Mai 2022:

Bevölkerung setzt Russen zu. In Melitopol, einer Stadt in der südöstlichen Ukraine, setzt der Widerstand der Zivilbevölkerung den Russen zu. … Laut dem US-Thinktank Institute for the Study of War sind in der Region zumindest seit Mitte März ukrainische Partisanen und Partisaninnen tätig. Laut dem ukrainischen Militärgeheimdienst wurden von 20. März bis 12. April 70 russische Soldaten während Nachtpatrouillen von den Partisanen und Partisaninnen getötet.“

Selenskyj hat zu Beginn des Krieges angekündigt, die Zivilbevölkerung bewaffnen zu wollen, die damit nicht mehr unter den Schutz des Kriegsrechts fällt. Und wenn die russische Soldateska den Unterschied zwischen Zivilisten und Militär auch nicht macht, dann handelt es sich natürlich um Kriegsverbrechen, und der Ex-Komiker jammert wieder mal vor der Kamera … In einem Fall sind bewaffnete Zivilisten eben Widerstandskämpfer; aber wenn beispielsweise in Bagdad ein gepanzerter US-Konvoi von einheimischen Widerstandskämpfern mit der Panzerfaust empfangen wird, indem irakische Patrioten seinerzeit ihre Heimat gegen einen kriminellen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg verteidigen, dann handelt es sich um Terroristen.

Noch ein Wort zur Weltwoche“. Das ist ein Schweizer Magazin, und das merkt man. Die Ausrichtung ist wirtschaftsliberal, gesellschaftspolitisch nach heutigen Maßstäben eher konservativ, da kriegt das Bedürfnis nach political correctness öfter sein Fett weg, alles im Rahmen eines durchaus gepflegten Pluralismus. Vor allem ist man dort von den Vorzügen der Schweiz, und da sehr von den Vorzügen der Neutralität überzeugt. Dass nicht nur die Ukraine, sondern auch die EU von den USA im Krieg gegen Russland benutzt wird und sich benutzen lässt, auch wenn sich manche Europäer aufführen, als hätten sie die Russenfeindschaft erfunden – das gibt dort jedenfalls zu denken; das könnte ja sehr böse enden.

Literatur:

https://weltwoche.ch/story/selenskyjs-welt/

https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/mythos-ukrainischen-volks

0 Kommentare

    • Ist mir auch aufgefallen, dass da zwei Podcasts untereinander aufgelistet sind, einmal “Selenskyjs Welt”, und einer über die Familie. Ist mir bisher nicht gelungen, das zu beheben. Muss ich bei CBA nachhaken. Ansonsten, danke für Feedback und lG,
      Herbert

      Відповіcти

Залишити коментар