Im Dschungel der westlichen Werte und der Propaganda (2)
Es geht nun weiter mit einigen Ergänzungen zu den letzten Stichworten, nämlich zum Bandera-Kult durch Ex-Botschafter Melnyk, und zum Asow-Regiment bzw. zu den rechtsradikalen und faschistischen Milizen in der Ukraine. Wieder mit Hinwies auf die Leistungen der freien Presse bei der (Nicht)Berichterstattung. Der „Standard“ hat ja mit seiner einfühlsamen Reportage bei den „Kämpfern“ des Asow-Regiments glaubwürdig und authentisch berichtet, dass die selber keine Bedenken gegenüber sich selber haben und auch keine Berührungsängste gegenüber Nazi-Symbolen. Wie der publizistische Zufall so spielt, erscheint nun in der Schweizer „Weltwoche“ neulich eine Erinnerung an ukrainische Maßnahmen gleich nach Kriegsbeginn, die durchaus wieder mal gewürdigt werden können:
„Der Krieg war noch keine Woche alt, da erließ der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj einen weitreichenden Ukas. Rechtskräftig verurteilte Straftäter könnten vorzeitig entlassen werden, wenn sie bereit wären, ihre «Schuld» an der Front zu büßen. Einzige Voraussetzung: Sie müssten über militärische Erfahrung verfügen. «Unter dem Kriegsrecht werden Ukrainer mit echter Kampferfahrung aus der Haft entlassen. Sie werden in der Lage sein, ihre Schuld in den heißesten Phasen des Krieges wiedergutzumachen. Das Wichtigste ist jetzt die Verteidigung», sagte Selenskyj.
Das war eine gute Nachricht für Ruslan Onischtschenko und seine Kameraden. Sie saßen seit sieben Jahren in Haft, und sie verfügten in gewisser Weise über militärische Erfahrungen – wenn auch eher als Kriegsverbrecher, wie seinerzeit westliche Menschenrechtler feststellten. Denn sie waren Angehörige des Freiwilligenbataillons «Tornado», das im Krieg Kiews gegen die abtrünnigen Regionen Lugansk und Donezk für außergewöhnliche Grausamkeit bekannt und gefürchtet war.
Schon einen Tag vor Selenskyjs Beschluss war der stellvertretende Generalstaatsanwalt Andrij Sinjuk vorgeprescht und hatte Serhiy Torbin auf freien Fuss gesetzt. Der Paramilitär war für den Tod der Menschenrechtsaktivistin und Korruptionsbekämpferin Kateryna Handziuk verantwortlich. Sie war ihren Verletzungen erlegen, die er ihr bei einem Angriff mit Schwefelsäure zugefügt hatte. Am 27. Februar öffneten sich für Torbin die Gefängnistore. Mehr noch: Er durfte mehrere Mithäftlinge auswählen, die ihn an die Front begleiteten, darunter mindestens ein verurteilter Mörder.
Auch Onischtschenko stellte sofort einen Antrag auf Freilassung, doch er musste sich gedulden. Denn Generalstaatsanwältin Irina Wenediktowa kündigte an, alle Anträge genau zu überprüfen, vor allem jenen des «Tornado»-Kommandierenden. Die Bevölkerung solle sich keine Sorgen machen müssen, «dass Kriminelle nun die Straßen überschwemmen», teilte sie mit. Erst als Wenediktowa Mitte Juli von Selenskyj als Teil seiner Säuberungen des Sicherheitsapparates entlassen wurde, kam Onischtschenko frei.
Vor dem Maidan-Aufstand von 2014 war er als gewöhnlicher Krimineller mit langem Strafenregister aufgefallen – Raub, Vergewaltigung, Waffenbesitz. Doch dann schloss er sich einer der paramilitärischen Freiwilligenbataillone an, die vom damaligen Innenminister Arsen Awakow gegründet und in staatliche Strukturen eingegliedert wurden. Er ernannte Onischtschenko zum Kommandeur der «Tornados», die offiziell Teil der Polizei waren.
Ähnlich wie die «Asow»-Brigade, der «Rechte Sektor» oder «Aidar» waren auch sie für ihre rechtsradikale Gesinnung, ihren Sadismus und ihre Grausamkeit berüchtigt. Und auch die «Tornados» wurden im Kampf gegen die russischsprachige Bevölkerung im Osten des Landes eingesetzt. Dabei tat sich Onischtschenkos Bataillon durch besondere Brutalität und Habgier hervor: Lastwagenweise verschafften sie Plünderungsgut aus der Region, und in einer Schule in der Stadt Lisitschansk richteten sie einen Folterkeller ein.
Dort folterten sie verschleppte Zivilisten. Onischtschenko und sein Trupp vergewaltigten vor allem Männer und Jungen und zwangen sie, einander zu missbrauchen. Ihre Taten filmten und posteten sie. Doch obwohl der Chef der Regionalverwaltung die Truppe nach Kiew meldete, beschloss Innenminister Awakow ihre Auflösung erst, als sie den Zugverkehr in der Region blockierte und Wegzölle einforderte. Ihrer Festnahme widersetzten sich die «Tornados» mit Waffengewalt.“ (Weltwoche 30/31 2022)
Das gehört auch sehr stimmig zum Repertoire von Kämpfern, die selber sicher keine Bedenken gegenüber sich selber haben: Die moralische Erniedrigung ihrer Opfer, indem sie diese zwingen, sich als „Schwuchteln“ zu benehmen. Ins Visier der Behörden gerieten diese „Tornados“, als sie ab 2014 zu sehr auf eigene Faust gegen die Separatisten im Osten Krieg führten, auch gegen Direktiven der Zentrale in Kiew. Über den Prozess berichtet die „Weltwoche“:
„Immer wieder störten Anhänger den wiederholt verschobenen Prozess. Insgesamt wurden 111 Zeugen zu Verbrechen an 13 Opfern vernommen. Ständig bedrohten die Angeklagten das Gericht. «Ich vergewaltige deine Leiche mit einem Dildo», schleuderten sie dem Militärstaatsanwalt Anatoli Matios entgegen.“ (ebd.)
„Am 7. April 2017 verhängte das Obolon-Bezirksgericht in Kiew Urteile gegen zwölf Tornado-Polizisten. Tornado-Kommandeur Ruslan Onischtschenko, der in einem Telefongespräch zu einem Untergebenen sagte: «Wenn du bereit bist Folter zu ertragen, hast du das Recht zu foltern», bekam elf Jahre Gefängnis, sein Stellvertreter neun Jahre. Weitere «Tornado»-Mitglieder erhielten Strafen von acht bis zehn Jahren Gefängnis. Militärstaatsanwalt Martios, der die Ermittlungen vorangetrieben hatte, wurde nach der Wahl von Präsident Selenskyji von seinem Amt abberufen.“ (https://www.heise.de/tp/features/Rechte-Freiwilligenbataillone-westliche-Sicherheitsfirmen-und-Geheimdienste-in-der-Ukraine-4786307.html)
„Dafür wird nun sein damaliger Angeklagter Onischtschenko gleichsam wieder in Dienst gestellt – mit Waffe und in ukrainischer Uniform. Und mit seinen ganz speziellen militärischen Kenntnissen und Erfahrungen.“ (Weltwoche)
Auch das noch einmal als Illustration der Leistungen der sog. „Verantwortungspresse“. Bin einmal gerügt worden, für die Verwendung des Terminus „Lügenpresse“ – halte mich nun an die Bezeichnung „Verantwortungspresse“.
Nun noch die Ergänzungen zum ehemaligen Botschafter der Ukraine in Deutschland, und warum er gehen musste. Der Mann hatte sich als unbelehrbarer Fan des ukrainischen Faschisten und Nazi-Kollaborateurs Bandera profiliert, hatte dessen Leistungen während des Zweiten Weltkriegs in Frage gestellt und damit gegen ein zentrales deutsches Dogma der „Vergangenheitsbewältigung“ verstoßen. Darüber hinaus verstößt damit Melnyk gegen das gewichtige Narrativ vom demokratischen Leuchtturm in der Ukraine vs. den Autokraten und Hitler-Nachfolger im Kreml. Es geht bekanntlich um die „westlichen Werte“, die von der Ukraine überzeugend dargestellt werden sollen: Aber wer steht in welcher Tradition, wenn sich in der Ukraine die Bewunderer des Nazi-Kollaborateurs Bandera mit dem Westen gegen Russland verbünden? Mit anderen Worten, der russischen Propaganda von der notwendigen „Entnazifizierung“ der Ukraine, der wird jede Menge Material geliefert, von der Bandera-Verehrung im Westen der Ukraine, und dann auch noch von offiziellen Vertretern im Westen wie dem Ex-Botschafter – das gibt dicke Minuspunkte für den Ex. (Der Vollständigkeit und der Genauigkeit halber: Das ist nicht der russische Kriegsgrund, aber mit der Nazi-Keule hantieren, das kann man dort auch! Aber da muss der Westen drauf bestehen, dass das nur dem Westen zusteht!)
Letztens und mindestens so gewichtig verweist die Ablöse des Botschafters allerdings auf die Differenzen zwischen Deutschland und der Ukraine in Sachen Waffenlieferungen und bedingungsloser Unterstützung. Diesbezüglich ist der Botschafter öfter mit der deutschen Politik zusammengekracht, und dabei hat er sich überhoben. Wer ist denn hier der Bittsteller, und wer wird von wem benutzt? Die Angelegenheit ist in Österreich wahrscheinlich nicht so geläufig, zitiere daher einen Nachruf aus dem SPIEGEL, vom 07.07.2022:
„Melnyk brach ständig die Regeln, an die sich Politiker und Diplomaten in Berlin normalerweise halten: Er zitierte aus vertraulichen Gesprächen, blamierte Spitzenpolitiker. Einen Brigadegeneral und früheren Merkel-Berater nannte er «einen erbärmlichen Loser», Philosophen und Schriftsteller, die die Waffenlieferungen infrage stellten, bezeichnete er als «pseudointellektuelle Versager». Den Bundeskanzler Scholz titulierte Melnyk als «beleidigte Leberwurst», weil er wegen der Ausladung des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier zunächst nicht nach Kiew reiste. Es ist nie besonders klug, diejenigen, auf die man angewiesen ist, so vor den Kopf zu stoßen. Nicht die gelb-blauen Twitterer geben die Waffenlieferungen und Hilfszahlungen frei, sondern die Bundesregierung. … Die Entscheidung der Bundesregierung, doch schwere Waffen zu liefern, dürften weniger auf Melnyk, als auf den Druck aus den USA zurückgehen. … Auch die Bereitschaft der Europäer, die Ukraine um jeden Preis zu unterstützen, erlahmt offenbar mit zunehmendem innenpolitischen Druck. «Meine Leute werden ihre Jobs nicht für den Donbass opfern», zitiert die «New York Times» einen wichtigen Diplomaten in Brüssel. Die Überhöhung des Krieges zum Kampf zwischen Gut und Böse, die der Mobilisierung des Westens diente, behindert zunehmend eine offene Debatte über einen Waffenstillstand, über ein mögliches Ende der Kämpfe und eine Art Frieden. Man kann sich nicht vorstellen, wie Melnyk da eine konstruktive Rolle spielen kann.“
Sortieren wir auch hier auseinander: Dass die Geschichte vom „Kampf zwischen Gut und Böse“ eine „Überhöhung“ ist, die nicht zuletzt der Mobilisierung an der Heimatfront dient, der Einstimmung der europäischen Völker auf die schweren Zeiten, die der europäische Wirtschaftskrieg dem europäischen Fußvolk aufbürdet – das ist diesem Blatt des Durchblickertums ab und an auch eine Notiz wert, auch wenn das in keiner Weise als Abkehr von der Schwarz-Weiß-Malerei (miß-) zu verstehen ist. Wieso das eine Debatte über einen Waffenstillstand behindern sollte – die momentan niemand aus dem Kreis der maßgeblichen Subjekte, der Kriegsherrn, führt –, ist auch unerfindlich. Wie das mit den „Jobs“ weitergeht, die manche Leute angeblich nicht opfern wollen, wenn es nicht um „Gut gegen Böse“, sondern bloß um die Macht der Kiewer Zentrale über Krim und Donbass geht, wird man sehen; bislang sind Wirtschaft und normales Volk jedenfalls damit beschäftigt, einerseits die Preise zu erhöhen bzw. andererseits mit der dadurch allenthalben wachsenden Armut zurechtkommen zu wollen.
Der Krieg als Mittel der Politik
Der Konflikt des Ex-Botschafters mit seinem „Gastland“ speiste sich aus einer schlecht zu kaschierenden Diskrepanz, zwischen einerseits der moralischen „Überhöhung“, wie das hier ausgedrückt wird – und andererseits der keineswegs bedingungslosen und zu allem entschlossenen Unterstützung der Ukraine. Was die Waffenlieferungen betrifft, „verlangt“ Selenskyj quasi jeden Tag aufs neue irgendetwas, und beklagt sich über die aus seiner Sicht unzulänglichen Resultate – was seinen Ex-Botschafter zunehmend in Rage versetzte, und ihn dann die deutsche Hand beißen ließ, die die Ukraine füttert. Die Forderung nach einer „Flugverbotszone“ für russische Kampfflieger wurde ebenso abgelehnt wie der unmittelbare Einsatz von NATO-Truppen, zumindest von solchen, die über „Ausbildner“ hinausgehen.
Der Westen besteht darauf, einen Stellvertreterkrieg zu führen, indem die Ukraine durch Waffenlieferungen und logistische Unterstützung ebenso aufmunitioniert wie gebremst wird. Momentan sieht es danach aus, als ob die Verwicklung Russlands in einen Dauer- und Abnützungskrieg als sehr achtbares Zwischenergebnis geschätzt wird, mit allen ökonomischen und menschlichen Unkosten für Russland und die Ukraine; wobei der Wirtschaftskrieg ohnehin erst angelaufen ist, wobei die Aufrüstung der NATO in Osteuropa mit viel Elan vorangetrieben wird, und man sich ohnehin jede Eskalation vorbehält. Pointiert formuliert: Interessant an der Ukraine – aus NATO-Sicht – ist weniger die Ukraine, sondern mehr der Schaden, der Russland über die Ukraine zugefügt werden kann. Es erinnert ein wenig an Afghanistan vor 40 Jahren und an die Unterstützung der dortigen islamischen Terroristen, die dafür auch als „Freiheitskämpfer“ etikettiert wurden – allerdings ist die heutige Lage wesentlich explosiver, weil Russland heute ganz anders mit dem Rücken zur Wand steht, als die damalige Sowjetunion. (Vergleich Ende.)
Deswegen stellt sich für die westlichen Lieferanten und Paten der Ukraine das Problem der Kontrolle des Kriegsgeschehens. Es muss, behaupte ich mal ohne Kenntnis der Intrigen innerhalb der ukrainischen Führung, die den Präsidenten zu seinen Entlassungen und Säuberungen treiben, dort den Standpunkt geben, dass nur durch ständige Eskalationen und Provokationen Russlands die Ukraine doch noch zu retten ist – indem also versucht wird, die NATO als direkte Kriegspartei in den Krieg hineinzuziehen, und den Krieg vom Stellvertreterkrieg hinauf zur direkten Konfrontation zu heben – auf eine ganz andere Ebene, schon ziemlich in der Nähe des letzten Gefechts. So wie es ja die ukrainische Militärdoktrin als gültiges Szenario entwickelt hat: Die „internationale Gemeinschaft“, auf deutsch – die NATO – erscheint wie die US-Kavallerie im Western und gewinnt den Krieg, stellvertretend für die Ukraine. (Ob in dem Fall von der Ukraine viel übrig bleibt, ist wieder eine andere Frage.)
In der Kritik am früheren Beitrag „Selnskyjs Welt“, die ich mal zitiert habe, wurde auch die Behauptung moniert, dass „die Ukraine benutzt wird und sich benutzen lässt“ – auch diesfalls ohne jeden Anschein eines Arguments oder einer Widerlegung. Nun, die bisherigen Ereignisse geben durchaus beredt darüber Auskunft, wer da wen benutzt, wer da wen kämpfen lässt, bis zum letzten Ukrainer, und den Krieg sorgsam dosiert am Laufen hält. Es ist hier halt doch eine Interessengemeinschaft, eine sehr asymmetrische Interessengemeinschaft am Werk, die sich gern als Wertegemeinschaft überhöht. Russland hat die Osterweiterung der NATO und der EU gestoppt, das ist Putins Verbrechen. Gestoppt übrigens schon 2014, durch die Annexion der Krim und die Unterstützung der Separatisten im Donbass; die damalige Lage wurde durch die Minsker Abkommen kurz eingefroren. Übrigens ist auch „Minsk“ ein völkerrechtliches Abkommen, das von der Ukraine, Deutschland und Frankreich gebrochen wurde – was unaufgeregt und im Nachhinein von den Beteiligten als „Fehler“ abgetan wird bzw. als berechtigte List der Ukraine, um Zeit zur Aufrüstung zu gewinnen. Die ÖMZ (Österreichische Militärische Zeitschrift) notiert dazu lapidar: „Das ukrainische Militär ist seit einigen Jahren modernisiert worden. Die Fähigkeiten, das gefährlichste Szenario zu bewältigen, waren jedoch bei Weitem nicht vorhanden. Dazu kam der russische Angriff um Jahre zu früh, vielleicht auch ein Grund, warum Präsident Putin genau jetzt so massiv angriff.“ (ÖMZ 4/22 S. 411) Das kommt der ÖMZ also schon plausibel vor, ein russischer Angriff, solange der konventionelle Krieg überhaupt noch als Mittel der Politik kalkulierbar ist!
Das Interesse des Westens an der Ukraine als einem Schlachtfeld, in dem sich Russland verheddert, ist ziemlich transparent. Und das Interesse der Ukraine? Nun, die Ukraine ist noch immer oder schon wieder mit ihrer Staatsgründung beschäftigt. Ökonomisch dezimiert, durch die Abtrennung vom früher gemeinsamen Wirtschaftsraum der UdSSR, dann durch die Privatisierungen und die Umstellung auf die Profit-Produktion geschädigt, weiter durch die Unterwerfung unter die Direktiven der EU und die überlegene Konkurrenz der westlichen Unternehmen – so wurde aus dem früheren Stolz der sowjetischen Industrie ein Agrar-Exportland und ein Auswanderungsland, das die eigene Bevölkerung nicht ordentlich als Arbeitskraft einspannen und dadurch verköstigen kann. Kommt dazu die durch eben diese Privatisierung bewirkte Fragmentierung der politischen Macht in Gestalt der Oligarchen, die am Rechtsstaat vorbei oder gleich durch die Steuerung der Gesetzgebung ihre jeweiligen Sonderinteressen zur Geltung bringen. Obendrein die politische Fragmentierung durch Bevölkerungsteile, die sich im Osten und Westen anderen Staaten verbunden fühlen. Das alles unter einem offiziell zahlungsunfähigen Gewaltmonopol, das seit der Staatspleite 2008 zum ständigen Betteln gegenüber dem IWF genötigt ist. Kommt dazu, seit 2014, die Abtrennung der Krim und der Separatistengebiete und das Wirken der nationalistischen, rechtsradikalen von Oligarchen finanzierten Milizen, die auf eigene Faust und ohne viel Rücksicht auf die Berechnungen in Kiew ihren „privaten“ Kleinkrieg und ihre Terroranschläge gegen die Separatisten im Osten voranbringen. Durch die Anbindung an den Westen, an EU und NATO, hat sich ukrainische Politik eine Art Entwicklungshilfe erhofft, was bis neulich nicht wirklich funktioniert hat. Allerdings: Seit die Ukraine ein Schlachtfeld ist, ist sie im Westen kreditwürdiger denn je. Das schließt Differenzen nicht aus:
„Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die verzögerte Auszahlung von EU-Finanzhilfen in Milliardenhöhe für sein Land beklagt. Diese „künstliche Verzögerung“ sei entweder ein Verbrechen oder ein Fehler, sagte der Staatschef in seiner abendlichen Videoansprache. Jeden Tag erinnere er EU-Politiker daran, dass ukrainische Rentner, Flüchtlinge, Lehrer und andere nicht zu Geiseln von „Unentschlossenheit oder Bürokratie“ werden dürften. … Zwei Tage zuvor hatte der Vizechef des ukrainischen Präsidialamtes, Ihor Schowkwa, Deutschland für die schleppende Auszahlung verantwortlich gemacht. Von neun Milliarden Makrofinanzhilfe der EU sei erst eine Milliarde ausgezahlt worden. … Nach Angaben der EU-Kommission sind für die ausstehende Summe möglicherweise Garantien von Mitgliedsstaaten nötig, weil eine Absicherung über den EU-Haushalt nicht möglich ist.“ (dpa-AFX, 4.8.2022)
Das ist offenbar der Deal: Kriegsschauplatz Ukraine in einem Stellvertreterkrieg – dafür gibt es auch Kredit. Wo der dann landet – Rentner und Lehrer werden erwähnt – ist eine andere Frage.