Vergangenheitsbewältigung: Nationalsozialismus ist ein Rätsel! Wie war das Unmögliche bloß möglich?

Podcast
Kein Kommentar
  • Vergangenheit_war_das Unmögliche_möglich
    24:18
audio
24:37 min.
Der Nationalsozialismus und seine nachträgliche Verdichtung (Teil 5)
audio
23:32 min.
Der Nationalsozialismus und seine nachträgliche Verdichtung (Teil 4)
audio
22:53 min.
Der Nationalsozialismus und seine nachträgliche Verdichtung (Teil 3)
audio
23:04 min.
Der Nationalsozialismus und seine nachträgliche Verdichtung (Teil 2)
audio
23:49 min.
Der Nationalsozialismus und seine nachträgliche Verdichtung (Teil 1)
audio
24:29 min.
Linker Nationalismus heute – so bescheuert wie damals
audio
24:57 min.
Antworten auf die FPÖ (Teil II)
audio
22:57 min.
Linke und andere Antworten auf die FPÖ
audio
23:07 min.
Zum prognostizierten Erfolg der FPÖ
audio
22:56 min.
Nationale Identität im richtigen Leben

Vergangenheitsbewältigung: Was erfährt man über den Nationalsozialismus?
Er ist ein Rätsel! Wie war das Unmögliche bloß möglich?

Vergangenheitsbewältigung ist ein anderer Zugang zum, ein anderes „Interesse“ am Faschismus, das mit „Erkenntnis“ nichts zu tun hat; ist eine Befassung, die so ziemlich das Gegenteil einer vernünftigen Erklärung ausmacht und die das Thema sozusagen zugemüllt hat, bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Schon in der Bezeichnung klar, dass es da um ein wie auch immer geartetes Zurechtkommen mit, um die Bewältigung eines Problems geht. Eine andere Bezeichnung dafür – „Gedenkpolitik“ – drückt auch aus, es geht darum, mit dem „Gedenken“ „Politik“ zu machen. „Erinnerungskultur“ rückt das Thema gleich in die höheren Sphären der geistig-moralischen nationalen Erbauung; und die Bezeichnung „Antifaschismus“, die manchmal immer noch in Umlauf ist, die verkennt völlig den Zweck dieser Befassung mit, dieser Verwurschtung des Themas.

Die Vergangenheitsbewältigung widmet sich einer anderen Frage, und dieses Bedürfnis erschließt sich, wenn man sich an die Angriffe erinnert, die Jörg Haider selig in Form seiner sog. „Ausrutscher“ dagegen gestartet hat – der Spruch von der „ordentlichen Beschäftigungspolitik“ im Dritten Reich etwa. Dem Haider ist immer ein sehr eigenartiger Vorwurf gemacht worden, völlig jenseits der Frage, ob seine Behauptungen stimmen oder nicht: Er habe damit dem „Ansehen Österreichs“ geschadet. Dem ist also zu entnehmen, welche Ansprüche da an Auskünfte über den Nationalsozialismus gestellt werden. Die Frage lautet, wie müssen wir ganz allgemein – und speziell Politiker als Repräsentanten der gegenwärtigen Nation – über den Faschismus reden, damit eine taugliche Selbstdarstellung für „uns“ und „unsere Demokratie“ daraus wird. Das Reden über den Faschismus soll nicht diesen erklären, da geht nicht um richtig oder falsch bei einer theoretischen Bemühung, sondern die Stellungnahme zum Faschismus soll etwas über den aussagen, der sie tätigt, auf den – wieder: in seiner Eigenschaft als heutiger guter Österreicher oder Deutscher – soll ein gutes Licht fallen, indem er über den Faschismus herzieht, sich in diesem Sinn „antifaschistisch“ betätigt.

Die Auskunft Haiders war sachlich übrigens richtig. Dass das Dritte Reich eine erfolgreiche Beschäftigungspolitik gemacht hat, ist ein schlichtes Faktum; liegt daran, dass Faschismus und Demokratie, dass beide Systeme eine Marktwirtschaft steuern und benutzen, und daher registrieren, dass immer mal wieder Leute nicht gebraucht werden, Volksgenossen nutzlos sind und dem Staat auf der Tasche liegen oder sogar auf systemfeindliche Gedanken kommen – was seinerzeit noch der Fall war. Warum darf man das nicht sagen, warum verliert einer darüber den Posten des Landeshauptmannes? Nun, wer das so sagt, der unterstellt eine Identität von Demokratie und Faschismus, eine Gemeinsamkeit – und das darf man nicht; das stellt das Dritte Reich nämlich als einen Staat hin, der sehr vertraute Drangsale und Probleme gemanagt hat. Stattdessen befördert man das Ansehen der Gegenwart, indem der Faschismus als das Ganz-Andere hingestellt wird, als das böse Gegenbild zur guten Demokratie, die mit dieser nichts gemeinsam hat. Also handelte es sich damals bestenfalls um Pseudo-Beschäftigungspolitik wegen Rattenfängerei – so darf dann die damalige Beschäftigungspolitik schon aufgegriffen werden: Als leider geglückter Versuch, die Deutschen für eine Politik einzunehmen, von der die sich nie hätten beeindrucken lassen dürfen.

Bei der Benutzung des Faschismus zur Bewerbung der Demokratie wird schwarz-weiß-Malerei betrieben und wird über beide Systeme gelogen, dass es eine Freude ist, um eine geschönte Demokratie als das Gegenbild zum dämonisierten Faschismus darzustellen: Vom Faschismus wird ein Feind-, von der Demokratie ein Freundbild gezeichnet, ohne dass die mit ihren Eigenheiten groß das Thema ist; sie will einfach als die „Antithese“ gelten. Die Vergangenheitsbewältigung besteht im (dosierten) eifrigen Bekenntnis zu „unseren“ vergangenen „Verbrechen“, bewerkstelligt auf diese Weise die nationalistische Identifizierung mit der „eigenen“ Vergangenheit, mit der man praktisch gar nichts zu tun hat, und demonstriert gerade durch diese übernommene „Verantwortung“ für Taten, die man gar nicht begangen hat, die moralische Sonderklasse der jetzigen Nation – wer sich rücksichtslos und völlig offen seiner Vergangenheit „stellt“, erobert so die „Deutungshoheit“; und gibt die Maßstäbe vor sowie beschwert sich über alle, die es nicht so halten.

Ein Beispiel dieser Sorte „Theoriebildung“:

Die Fragestellung ist der Auftakt zur Verrätselung
Wie waren Hitler und der Nationalsozialismus möglich?“

Achtung! Warnung! Diese übliche, die durchgesetzte Frage in der Faschismusforschung – „Wie war denn so etwas nur möglich?“ – ist von ihrer Logik her gezinkt; sie enthält schon den wesentlichen Teil der Antwort. Sie unterstellt nämlich, dass „das“ – der Faschismus – eigentlich unmöglich ist, eigentlich ausgeschlossen sein sollte, eigentlich nicht passieren könnte und dürfte. Der nachhaltige Eindruck des Dritten Reiches in der Geschichte ist eigentlich „unvorstellbar“; und wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre im Staat, hätte es so ein „Verbrechen“ nie geben können. Die Grundfrage der Faschismusforschung lautet also, wie es trotzdem zu der bekannten sehr belastbaren Einheit von Volk und Führung kommen konnte, die es nie hätte geben dürfen. Weiter in der Antwort:

Bei der Eroberung der Macht durch die Nationalsozialisten gab es ein Ineinandergreifen von Gewalt und Verführung. Der Terror gegenüber politisch Mißliebigen und Juden war eine Seite des Regimes. Die andere war ein Eingehen auf Sehnsüchte und Hoffnungen breiter Massen der Bevölkerung.“
(Informationen zur politischen Bildung (Heft 251) Nationalsozialismus I, Bundeszentrale für politische Bildung 2003)

Sicher, die „Eroberung der Macht“ war anders geartet und weniger ordentlich als einige Jahrzehnte später, wo die alten Machthaber oder ihre bisher in Opposition befindlichen Nachfolger per Wahl ermächtigt werden. Oder doch nicht? Stattdessen Gewalt und Verführung? Wirklich? Denn auch die NSDAP hat ihre Wahlkämpfe geführt, ihre Stimmanteile gewonnen, Hitler wurde von einer Parteienkoalition zum Kanzler gemacht und konnte mit Unterstützung des Reichspräsidenten – ein „Ineinandergreifen“ der Staatsorgane! – seine Agenda abarbeiten … Die Gewalt bestand wesentlich in der Benutzung der längst vorhandenen staatlichen Gewaltapparate nach Regierungsantritt. Dass die Nationalsozialisten sehr wohl „Sehnsüchte und Hoffnungen“ der Bevölkerung erfolgreich angesprochen haben, ist hier noch notiert. Welche das waren, wird an dieser Stelle nicht erwähnt, aber um das normale Verhältnis von Volk und Führung darf es sich dennoch nicht gehandelt haben – statt dessen um fragwürdige Ver-Führung? (Vgl. etwa:
https://de.wikipedia.org/wiki/Chronologie_der_nationalsozialistischen_Machtergreifung
https://www.vsa-verlag.de/uploads/media/VSA_Gutte_Huisken_Alles_Bewaeltigt_nichts_begriffen.pdf, darin die Abschnitte über „Die Machtergreifung“ und „Das Volk – Mitmacher wider Willen“)

Weiter geht die Verfremdung: „Wie konnte er mit seiner Massenbewegung einen hoch entwickelten und modernen Industriestaat mit einer großen kulturellen Tradition unter seine diktatorische Gewalt bringen? Wie war es möglich, dass die überwiegende Mehrheit der Deutschen sich mit diesem Unrechtsregime arrangiert hat? Wie konnten sich in einer solchen Gesellschaft mit ihrer rechtsstaatlichen Tradition und ihrer technisch-wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit derartige kriminelle Verfolgungs- und Vernichtungsenergien entfalten, wo doch die Kriminalitätsrate dieser Gesellschaft bis dahin nicht höher war als die in den anderen europäischen Ländern?“ (Informationen zur politischen Bildung (Heft 251) Nationalsozialismus I, Bundeszentrale für politische Bildung 2003)

Industriestaat mit Kultur, die Bevölkerungsmehrheit, eine rechtsstaatliche Tradition, Technik und Wissenschaft sind hier „eigentlich“ antifaschistisch und daher irgendwie entgleist? Ja warum denn? Da werden völlig disparate Phänomene aufgelistet, denen wird eine antifaschistische Qualität angedichtet, und daraus wird ein Rätsel komponiert. Wieso soll denn eine „Industrie“ oder eine „Kultur“, wieso sollen „Technik und Wissenschaft“ – alles Elemente, die vom und im Dritten Reich benutzt wurden! – eigentlich unverträglich mit einer Diktatur sein? Die chemische Industrie hat u.a. auch das Gas geliefert, Hitler war Stammgast in Bayreuth bei den Festspielen, und Technik und Wissenschaft wurden von Staats wegen gefördert. Der Rechtsstaat wurde nach allen Regeln der Staatskunst – mit Gewalt nämlich – umgebaut, auch Rassegesetze sind schließlich Gesetze. Die Bevölkerung war, wie erwähnt, wg. „Hoffnungen und Sehnsüchten“ auch dabei. Da wurden also alle diese Bestandteile moderner Staatlichkeit weiterverwendet bzw. reformiert und angepasst – und dann tut diese Fragestellung so, als wäre das eigentlich unmöglich oder zumindest zutiefst verwirrend … Entgleist ins „kriminelle“ sollen Kultur, Industrie, Technik und Bevölkerung sein, obwohl die „Kriminalitätsrate“ vorher unauffällig war – da ist schon festzuhalten, dass Hitler Politiker war und in dieser Eigenschaft über Leichen ging, und nicht als Serienmörder. Diese Charakterisierung als ein „Verbrechen“, das ist übrigens die durchgesetzte Verharmlosung des Faschismus schlechthin; Faschismus ist nämlich eine Variante von Staat und Politik – und wird hier als ein „eigentlich“ von Staats wegen zu bekämpfender Missstand dargestellt. Die Fortsetzung ist eine weit anerkannte Warnung:

„… zu einzigartig und unvorstellbar sind die Massenverbrechen, die vom nationalsozialistischen Deutschland begangen wurden. Auch wenn die Fakten längst bekannt sind, wird es immer schwer sein, die nationalsozialistische Eroberungs- und Vernichtungspolitik begreiflich zu machen, sie mit unseren sprachlichen und wissenschaftlichen Mitteln zu erklären, ohne sie dabei zu verharmlosen.“ (ebd.)

Was soll der gesammelte Mumpitz? Wenn „die Fakten längst bekannt sind“, was ist dann bitte schön noch „unvorstellbar“? Wieso? Warum sollte denn ausgerechnet eine „Eroberungs- und Vernichtungspolitik“ „unvorstellbar“ sein, bzw. warum sollte ausgerechnet die Erklärung einer solchen „Eroberungs- und Vernichtungspolitik“ die Gefahr in sich tragen, genau diese „Eroberungs- und Vernichtungspolitik“ zu verharmlosen? An der ändert sich doch nichts, durch ihre Erklärung; „harmloser“ wird sie dadurch sicher nicht! Wenn diese Sorte Faschismusanalyse im Wesentlichen zu Protokoll gibt, dass man sich längst bekannte Fakten einfach nicht vorstellen können will, dann enthält dieses Weltbild schon eine Auskunft über die darin enthaltenen unvorstellbaren“ Phänomene: Es ist „unvorstellbar“, also eigentlich unmöglich, dass Nation, Staat und Politik faschistische Konsequenzen haben können; es ist eigentlich unmöglich, dass der Faschismus auch eine politische Alternative ist, eine Variante von Staat-Machen. Diese Fragestellung nach der Möglichkeit der eigentlichen Unmöglichkeit spricht damit die Politik, die Nation, den Staat, die nationale Sache von vornherein von der faschistischen „Entgleisung“ frei, indem der Faschismus von vornherein als ein „Bruch“ oder „Unfall“ gehandelt wird, der nichts mit einer geläufigen, „verständlichen“ Staatsräson zu tun haben kann, wie man sie kennt und schätzt. Diese Warnung vor der Erklärung als einer möglichen Verharmlosung ist konstitutiv für diese Befassung generell, das „Begreifen birgt angeblich die Gefahr des Verharmlosens“ – klar, wenn man den Nationalsozialismus ohne jedes Verständnis verurteilen muss, um ihn aus der Geschichte und Nation auszugrenzen, dann relativiert jede Erklärung, sofern sie notgedrungen auf Politik, Nation und Staat Bezug nimmt, womöglich diese Verurteilung; was man nicht mit „Verharmlosung“ verwechseln sollte.

Im weiteren Fortgang sieht man womöglich unmündige Kinder bei einem Auschwitz-Besuch, die interessante Schilder hochhalten, die auf ein Erklärungsverbot hinauslaufen: „Wer Auschwitz erklären will, hat Auschwitz nicht verstanden.“ Man soll verstehen, dass es da nichts zu verstehen gibt, weil eine Erklärung den Völkermord möglicherweise doch wieder zurückholt, in die deutsche Geschichte, in der er keinen Platz haben darf …

*

Die Vergangenheitsbewältigung hat inzwischen selbst eine 70-jährige Vergangenheit, und deren Etappen korrespondieren durchaus dem jeweils erreichten Stand deutscher Souveränität, von der lizenzierten Gründung bis zum erfolgreichen Anschluss der DDR, mit dem auch die anfängliche Bewältigung revidiert ist. Nicht in dem Sinn, dass das Geschichtsbild offiziell revidiert wird und die Leugnung der Gaskammern die Nation von ihrer so grandios genutzten Schuld befreit – das bleibt Stammtischen und „Geschichtsrevisionisten“ unterhalb der repräsentativen, amtlichen Gesinnungswirtschaft vorbehalten, die es natürlich immer schon gegeben hat. Sondern so, dass die moralische Verwaltung von Millionen toter Juden endgültig von Deutschland für Deutschland betrieben wird, und die geläuterte Nation immer öfter ein widerspenstiges Ausland mit der „Nazi-Keule“ traktiert. Deutschland hat erfolgreich die Kurve vom Angeklagten zum Richter gekratzt, zum Richter über andere Nationen. Es besteht darauf, mit seiner durch „Auschwitz“ verbürgten „einzigartigen“ moralischen Qualifikation selbst die Lehren aus Auschwitz zu definieren und als politisches „Argument“ zu nutzen. Das ist es, was beleidigte ewiggestrige Trottel nicht kapieren, während ein aufgeklärter Kommentator ihnen im Zuge der sogenannten „Walser-Debatte“ vorbuchstabiert, wie rundum positive nationale Selbstdarstellung mit Hilfe der nationalsozialistischen Accessoires zelebriert wird. Die damaligen Positionen erinnern an eine Kontroverse etwa 10 Jahre später in Österreich bzw. Ebensee, dokumentiert im Beitrag „Vergangenheitsbewältigung auf österreichische“. (https://cba.media/650336) Damals – 1998 – hatte der Dichter Walser sein Unbehagen mit der „Erinnerungskultur“ zu Protokoll gegeben:

Ich verschließe mich Übeln, an deren Behebung ich nicht mitwirken kann. Ich habe lernen müssen, wegzuschauen. … Unerträgliches muss ich nicht ertragen … Ich bin auch nicht der Ansicht, dass alles gesühnt werden muss. In einer Welt, in der alles gesühnt werden müsste, könnte ich nicht leben.“ (https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/die-walser-bubis-kontroverse/)

Da hat sich der Dichter schon ein wenig blöd stellen müssen, so als ob jemand eine „Behebung“ angemahnt hätte, eine praktisch gemeinte „Bewältigung“ des Vergangenen oder eine „Sühne“. Die gerechte Antwort zelebriert Zufriedenheit und Stolz auf die Gegenwart:

„‘Auschwitz’, um die Kurzformel zu gebrauchen, ist längst zum konstitutiven Bestandteil dieser Republik, ja zum Teil ihrer Verfassung geworden. Was die Walsers, ob im Salon oder Bierkeller, nicht wahrhaben wollen: Dieses Deutschland, das glücklichste in der Geschichte, bezieht merkwürdigerweise auch seine positive Identität aus dem Menschheitsverbrechen. Wie das? Die Liste ist endlos. Die Verfassung? Nie wieder Weimar. Staatsbürgerrecht? Nie wieder wie bei den Nazis. Menschenrechte? Damals wurden sie zertrampelt, jetzt sind sie unantastbar. Pressefreiheit? Natürlich, als Bastion gegen die Totalitären. Außenpolitik? Stets in der Gemeinschaft, damit die Deutschen nie wieder dem Hegemonialwahn verfallen können. Erinnerung, Reue, Verantwortung sind Teile der ungeschriebenen Verfassung. Anfänglich hat man es dem Ausland zuliebe getan, so wie Adenauer kühl kalkulierend die Wiedergutmachung beschloss, um den USA zu gefallen. Aber daraus ist ein Stück raison d’état geworden. So stellt sich das ‘bessere Deutschland’ dar – nicht im kollektiven Flagellantentum, wie die Walsers wähnen, sondern mit dem Gestus des Geläuterten, der einen moralischen Anspruch zu verkörpern sucht. Man darf sogar einen Schritt weitergehen. Wenn die Nation am 9. November der ‘Kristallnacht’ gedenkt, tut sie es nicht dem Ignatz Bubis oder der ‘New Yorker Presse’ zuliebe. Dann formiert sie sich in einem Ritual, das wie alle Rituale Halt, Sinn und Werte vermittelt: Wir erinnern uns an den Horror und zelebrieren so dessen Überwindung. Wer das wie Walser als ‘Lippengebet’ verhöhnt, verkennt die lebenswichtige Funktion von scheinbar ‘leeren’ Ritualen. Müßig hinzuzufügen, daß dies auch realpolitischen Zins zuhauf abgeworfen hat.“ (Josef Joffe, Süddeutsche Zeitung 12./13.12.98)

Das war keine Realsatire und keine Verhöhnung, sondern eine ernstgemeinte Bilanz. Wer das als „Lippengebet“ verhöhnt, verkennt die lebenswichtige Funktion von Ritualen und Lippengebeten – für den Nationalstolz! Haben fertig!

Lascia un commento