Auf den ersten Blick scheint die Praxis des Strickens im Widerspruch zur aktuellen neoliberalen Systemlogik zu stehen. Denn schließlich erfordert das Stricken nicht nur Materialen, deren Einkaufspreise weit höher liegen als bereits fertig genähte Kleidung, sonder vor allem auch viel, viel Zeit — eine Ressource, die immer knapper zu werden scheint.
In ihrer Dissertation Verstrickungen. Kulturanthropologische Perspektiven auf Räime textilen Schaffens fragt Lydia Maria Arantes wie es kommt, dass diese Praxis nach wie vor von zahlreichen Personen, überwiegend Frauen, ausgeführt wird und und sich sogar einer immer größeren Beliebtheit erfreut: Stricken boomt. Beladen mit Zuschreibungen der ‚Weiblichkeit‘ und eingeordnet in die Kategorie der ‚Nicht-Arbeit‘ hat unser heutiges Verstädnis von Stricken seine Wurzeln im frühen bürgerlichen Zeitalter. Als eine soziale Praxis im Sinne von Mauss‘ „Gabe“ festigt es Beziehungen zwischen unterschiedlichen AkteurInnen und stellt Sozialkapital her. Darüber hinaus gibt es heute aber auch Marktplätze für gestrickte Kleidung im Internet, in denen ökonomisches Kapital erwirtschaftet wird — das Stricken kann in den Kanon neoliberaler Selbstoptimierungsstrategien eingeordnet werden. Auf den zweiten Blick entpuppen sich die Räume textilen Schaffens also als komplexe und teils widersprüchliche soziale Spannungsfelder, in denen Verstruickungen materieller und ideeller Natur produziert und reproduziert werden.
Verstrickungen. Kulturanthropologische Perspektiven auf Räume textilen Schaffens. Mit Lydia Maria Arantes. Kulturanthropologische Gespräche #37
Das wilde Denken. Kulturanthropologische Gespräche. Mit Robin Klengel und Ruth Eggel auf Radio Helsinki, 92,6 Graz.