Das „enfant vagabond“ als Beispiel medikaler Deutungsmuster im pädagogischen Kontext.
Nora Bischoff (Berlin)
Das „Davonlaufen“ von Kindern und Jugendlichen gehörte zu jenen problematisierten Verhaltensweisen, die eine Irritation der bürgerlichen Ordnung darstellten und auf die mit Politiken der Einhegung reagiert wurde. „Die hervorstechendste Eigenart verwahrloster Knaben ist das Vagieren“ hieß es 1911 zum Stichwort „Verwahrlosung“ im Enzyklopädischen Handbuch der Pädagogik. Als mögliche Ursachen wurden erstens die „pathologische Steigerung und Verwilderung des Freiheitsgefühls“, zweitens „krankhafte, psychopathische Zustände (Epilepsie, Zwangsangst)“ sowie drittens die „sog. ‚Schulangst‘ überbürdeter Kinder“ angeführt. Bei Mädchen hingegen zeige sich die Verwahrlosung im Wesentlichen in „sexueller Erregbarkeit und Ausschreitungen“, weshalb das Vagabundieren bei ihnen auf die Erfüllung eines vermeintlich fehlgeleiteten oder übersteigerten Geschlechtstriebs zurückzuführen sei. Hier wird deutlich, dass sich zum Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur ein geschlechtlich codiertes Verwahrlosungsnarrativ herausgebildet hatte, sondern auch eine medikale Deutung abweichenden Verhaltens vorherrschend war. So entwickelte die Psychiatrie im frühen 20. Jahrhundert – eingebettet in die Forschungsdiskurse zur „Verwahrlosung“ sowie über den „Wandertrieb“ – eine Taxonomie dieses „enfant vagabond“ (Guy Néron, 1928). Deren Wirkmächtigkeit ergab sich allerdings nicht nur aus den Bestrebungen der Psychiatrie, sich als eine gesellschaftliche Leitwissenschaft zu etablieren, sondern auch aus der Bereitschaft der Pädagogik, die medikale Deutung sozialen Verhaltens vorrangig zu beachten. Sozialwissenschaftliche Erklärungen mussten bis ins späte 20. Jahrhundert meist weit dahinter zurückstehen. Selbst wenn das soziale Umfeld als bedeutsam anerkannt wurde, blieb der Fokus auf die (als defizitär verdächtigte) Persönlichkeit des „verwahrlosten“ Kindes gerichtet, wenn es darum ging, die Ursachen des Weglaufens oder „Herumtreibens“ zu ergründen. Wohl eigneten sich Fürsorge und Pädagogik die medikale Sichtweise bei der ‚Diagnose‘ an, welche abweichendes Verhalten in der Tendenz pathologisierte. Jedoch setzten sie bei der ‚Therapie‘ auf pädagogische Mittel: Als der angemessene Ort, um eine Änderung des Verhaltens herbeizuführen, galt in den meisten Fällen nicht die Psychiatrie, sondern die Besserungsanstalt bzw. das Erziehungsheim. Ihre konzeptionelle Anschlussstelle zur Psychiatrie fand die Anstaltspädagogik in einem Erziehungskonzept, das im 19. Jahrhundert unter den Begriffen „Regierung“ und „Zucht“ herausgearbeitet worden war und auf die „sittliche Entwicklung der Persönlichkeit“ abzielte. Die daraus abgeleiteten pädagogischen Leitlinien waren u.a. Beseitigung der Störung der Ordnung, Gewöhnung, Belohnung und Strafe. Über die „Grenzen der Erziehbarkeit“ (Villinger, 1928) entschied bis in die 1970er Jahre im Zweifelsfall die Psychiatrie. Im Vortrag soll die longue durée des medikalen Deutungsmusters des „Davonlaufens“ sowie der darauf gerichteten pädagogischen Praktiken zum Einen anhand der einschlägigen Fachpublikationen, zum Anderen im Spiegel der Tiroler und Vorarlberger Jugendfürsorge in den Blick genommen werden.