Anlage oder Erziehung? „Nervöse“ und „psychopathische“ Kinder in der Weimarer Republik.
Thomas Beddies (Berlin)
Im Ersten Weltkrieg wurden in Deutschland neben Risiken für die körperliche Gesundheit der Kinder auch Probleme im mentalen und sozialen Bereich offenbar, um deren Bewältigung als „Kriegsfolgelasten“ man sich nach 1918 verstärkt bemühte. Die Notwendigkeit erweiterter und spezifizierter Behandlung und Betreuung auffälliger Kinder fand in ihren Ausdruck nicht nur in der (Heil-)Pädagogik, Fürsorge und Rechtsprechung, sondern auch in der Psychiatrie, in der Kinder mit eigenen Diagnosen und Therapieerfordernissen anerkannt wurden. Die Suche nach den Bedingungsfaktoren beobachteter Symptome wurde vor allem durch die Diskussion über Einflüsse und Wechselwirkungen von „Anlage“ und „Milieu“ bestimmt. Diese „Anlage-Umwelt-Debatte“ soll am Beispiel eines Richtungsstreits zwischen der Psychiatrischen und Nervenklinik der Berliner Charité und der Leipziger Universitätsnervenklinik am Ende der Weimarer Republik nachgezeichnet werden. Die Auseinandersetzungen zwischen R. v. d. Leyen und F. Kramer (Berlin) auf der einen und P. Schröder und H. Heinze (Leipzig) auf der anderen Seite zeigen paradigmatisch Verlaufslinien der Diskussion und werfen auch ein Schlaglicht auf die Verhältnisse im Übergang zur NS-Diktatur. Auch in der Jugendfürsorge führte die Finanzkrise dazu, dass erbbiologische Konzepte, die Kostensenkungen für die Betreuung „Minderwertiger“ versprachen, zunehmend an Bedeutung gewannen. In Bezug auf verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche drückte sich diese Tendenz in der Debatte darüber aus, ob „Schwerst-“ bzw. „Unerziehbare“ überhaupt einen Platz in der Fürsorgeerziehung bekommen sollten. Die Annahme, dass als Ursache für deviantes Verhalten vorrangig vererbte Defekte zu gelten hätten, reduzierte die Lösungsansätze für solche Fälle. Statt aufwändiger Erziehungsprogramme wurde als „vernünftige“ Option ihre Verwahrung in (Arbeits-)Anstalten zum „Schutz der Gesellschaft“ vorgeschlagen. Dieser Präferenz der „Anlage“ als Verursacherin abweichenden Verhaltens wurde 1933/34 von Kramer und v. d. Leyen heftig widersprochen. Beide vertraten einen integrativen Ansatz, der von der unauflöslichen Verbindung der Anlage- und Milieu-Einflüsse ausging. Der Ausgang der Kontroverse wurde letztlich nicht mehr von dem epistemologischen Gehalt der sich gegenüberstehenden Theorien bestimmt, sondern von den politischen Rahmenbedingungen im NS-Deutschland. Hier erwies sich die Anschlussfähigkeit des Leipziger Modells an die rassistischen sozial- und gesundheitspolitischen Zielsetzungen als vorteilhafter.