Traumarsenal 10

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Traumarsenal
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Einen Stein nach den Sternen werfen
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Traumarsenal 4

Das Traumarsenal hat Träume ungebunden, unanalytisch und poetisch kommentiert. Die Sendereihe bat wie ihr Vorbild, Robert Desnos’ Radioproduktionen “La clef des songes” von 1938, Hörerinnen und Hörer, Träume vorzulegen oder zu kommentieren.

 

Zum zehnten Mal erklingt das Traumarsenal am 8. Juni 2020 mit dem werkgewordenen Tagtraum (Corona-Meditation) von Gerd Kühr. Es ist der 75. Todestage von Desnos. Willkommen zu dem coronamäßig etwas anderen Traumarsenal: Malik Sharif kommentiert das Werk und die Lage der Kunst. Weitere Stimmen sind die von Justin Winkler, Doritt Haertel und Paula Rolshoven.

 

Mon tombeau

« Mon tombeau mon joli tombeau
il sera peint au ripolin
avec des agrès de bateau
et des tatouages de marin.

Sur mon tombeau un phonographe
chantera soir et matin
la complainte du guerrier cafre
navré d’un coup d’œil libertin

Sur mon tombeau un phonographe
Récitera cette épitaphe

LIBERTÉ ÉGALITÉ FRATERNITÉ »

Robert Desnos dans Prospectus, 1919

 

Elf Kommentare von Malik Sharif

(Malik Sharif hat 2022 einen musikwissenschaftlichen Beitrag zu Gerd Kührs Corona-Meditation publiziert, siehe https://musau.org/parts/neue-article-page/view/122.)

(I) Es ist ein Abend Anfang Mai 2020 in Graz und ich sitze in meinem Arbeitszimmer am Schreibtisch. Mein Computer läuft und ich höre mir die Aufzeichnung der wenige Tage zuvor stattgefundenen Uraufführung von Gerd Kührs Corona-Meditation an. Würde jemand durchs Fenster in mein Zimmer blicken, wäre die Person eventuell verleitet zu sagen, dass ich mir die Aufzeichnung ansehe. Doch da ich mit dem Rücken zum Fenster sitze, könnte die Person nicht erkennen, dass ich die Augen geschlossen habe.

(II) An der Aufzeichnung interessiert mich – offen gesagt – nur die Komposition in ihrer konzentriert klanglichen Daseinsform. Die bewegten Bilder, die ebenso mitgeliefert werden wie das obligatorische Beiwerk, das man gemeinhin Kunstvermittlung nennt, selbst die geäußerten Intentionen des Komponisten sind mir – zumindest im Augenblick – gleichgültig. Ja, doch – Musik ist performativ. Ja, doch – Musik kann als soziale Praxis nicht auf ihre klangliche Dimension reduziert werden. Ja, doch – jede Musikaufführung kann als abstraktes Musiktheater aufgefasst werden, somit als intermedialer Handlungskomplex. Ja, doch – gerade in diesem Fall scheint es doch um eine zeitbedingte Thematisierung der sozialen Interaktion zu gehen, die sich nicht im Auditiven erschöpft, so viel habe ich schon mitbekommen … Ich höre diese Einwände, ich höre den Vorwurf einer konservativen Musikauffassung. Aber sei’s drum – meine Augen sind erschöpft von der täglichen Arbeit am Bildschirm, von den ermüdenden Videokonferenzen – und vielleicht habe ich ja auch eine konservative Musikauffassung. Ob ich mich dem Werk in adäquater Weise nähere? Darüber hat hier und jetzt in meinem Arbeitszimmer niemand zu urteilen.

(III) Es beginnt mit – Stille. In diese Stille hinein tritt sanft, einem Gong gleich, zunächst eine langsam und ungestört verklingende Oktave aus Kontra-F und großem F. Eine sie überlagernde Oktave aus drei- und viergestrichenem C folgt ihr und spannt einen weitläufigen Tonraum auf. In gemessenem und gleichmäßigem Tempo werden die Eckpunkte dieses Raums fortwährend markiert. Und es kommt mir vor als befände ich mich in einer menschenleeren, angenehm kühlen, gotischen Kathedrale. Ein ins Kosmische strebender Raum.

(IV) In diesen Raum ergießen sich meine Gedanken, meine Ideenfragmente, Fragen, Zweifel und Verwirrungen, die sich schon allzu lang aufgestaut haben. Die vergangenen Wochen waren – erzwungenermaßen wie auch vernunftbedingt – Wochen der Einsamkeit – aber es war eine banale, laute und fruchtlose Einsamkeit, keine Zeit der stillen, kontemplativen Erhabenheit und fruchtbaren Bedachtsamkeit. Nun haben diese beständig pendelnden Oktaven die Tür zu einem Ort geöffnet, an dem sich alle diese Gedanken nach und nach entwirren, nach und nach in eine Ordnung zueinander treten, so wie die Töne, die nach und nach und ohne Eile dem Tonraum der Corona-Meditation Tiefenstruktur verleihen. Wichtiges tritt in den Vordergrund, Unwichtiges in den Hintergrund; und das, was von Bedeutung ist, lässt sich ganz allmählich und in aller Ruhe überdenken.

(V) Unter den vielen Gedanken, die sich nun voneinander scheiden, ist eine Frage, die mich in der letzten Zeit immer wieder beschäftigte, die ich für mich aber nicht recht befriedigend beantworten konnte und die sich mir nun in zunehmender Deutlichkeit präsentiert: Was kann Kunst für die Menschen in einer Situation wie der gegenwärtigen tun?

– Nein, das ist nicht ganz, was mich beschäftigt. Genau genommen stellt sich mir die Frage: Was soll Kunst für die Menschen in einer Situation wie der gegenwärtigen tun? –

Sollte es in dieser Frage nicht besser „Künstlerinnen und Künstler“ heißen als „Kunst“? Nein, es geht mir bei dieser Frage tatsächlich um die Resultate künstlerischer Arbeit, nicht um jene, die diese Arbeit verrichten. Es gäbe natürlich viele weitere Fragen, die mich gleichermaßen beschäftigen und bei denen die Künstlerinnen und Künstler befragt wären – aber darum will ich mich ein anderes Mal kümmern.

(VI) Sollte Kunst vielleicht die gegenwärtige Situation zum Thema machen? Sie ausdeuten oder zumindest mit ihren Mitteln dokumentieren? Ich bin mir nicht sicher. Ich will nicht sagen, dass es falsch wäre, aber ich habe zumindest Zweifel an der akuten Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit solcher Unterfangen. Die reine Dokumentation hat augenscheinlich keine Dringlichkeit, denn sekündlich werden Unmengen unterschiedlichster Quellen aus allen öffentlichen und privaten Lebensbereichen zur allgemeinen Ergötzung angehäuft. Zweckmäßig Material für eine zukünftige künstlerische Auseinandersetzung zu sammeln und allenfalls die Bereiche und Aspekte zu entdecken, die trotz umfassender medialer Durchdringung im Verborgenen liegen, wäre eine relevante Arbeit, aber eine Vorarbeit. Die eigentliche Arbeit mit dem derart gesammelten Material sollte nach meinem Empfinden besser auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden, wenn in gewissermaßen historischer, in nachdenkender Bewusstwerdung die komplexe Bedeutung des Geschehenen für uns und die Welt analysiert oder auf den Punkt gebracht werden kann.
Nicht dass Kunst dies nicht auch in der Gegenwart zu leisten vermöchte – aber allzu viele Personen sind gegenwärtig damit beschäftigt uns ihre Diagnosen und Deutungen in inflationärer, gehetzt fantasieloser und fast schon vulgärer Weise aufzudrängen, als dass sich die feinere Stimme der Kunst hier Gehör verschaffen könnte. Kunst scheint mir zu sein, zu schweigen, wenn die Welt vom andauernden Gerede der Auskenner und Chefdenker erfüllt ist, und genau dann das Richtige zum Ausdruck zu bringen, wenn es allen anderen die Sprache verschlagen hat.

(VII) Sollte Kunst den Menschen in dieser unerquicklichen Situation Trost spenden? Sollte sie einen Beitrag dazu leisten, das alltägliche Leben ein klein wenig leichter zu meistern? Ja, das sollte sie ohne Zweifel. Das sollte sie selbst dann, wenn wir eigentlich der Meinung sind, dass die elendigen Lebensumstände – und hier meine ich bewusst nicht die kleineren Unannehmlichkeiten, mit denen manche, etwa ich selbst, konfrontiert sind und die von so vielen umso lauter und theatralischer in die Welt geschrien werden, sondern ich denke an Menschen wie die Arbeitenden in der Sozialwirtschaft, zunächst gönnerhaft beklatscht und dann kollektivvertraglich geohrfeigt, ich meine die Familien, die nicht für jedes Familienmitglied einen Laptop haben, um Home Office und Home Schooling unter einen Hut zubringen, ich meine Moria, ich meine die Menschen die weder Mittel noch Zeit haben, eine ironische Instagramstory über ihr Leben in der sogenannten Quarantäne zu machen, diejenigen, denen nicht zum Lachen zu Mute ist; ich meine also elendige Lebens- und Gesellschaftsbedingungen, die eigentlich zu überwinden wären und nicht zu ertragen. Und selbst in so einer Situation sollte Kunst – auch – einen Beitrag leisten, um durch den Tag zu kommen und nicht die Hoffnung auf ein besseres Leben zu verlieren. Diese Aufgabe als verblendend oder systemstabilisierend abzutun, vielleicht noch mit einem routiniert abgeklärten Verweis auf irgendeine gelahrte Passage aus der kritischen Theorie, wäre zynische Inhumanität.
Allerdings scheint mir, dass Kunst dann am meisten und – ich will es so ausdrücken – am ehrlichsten tröstet, wenn sie nicht die Absicht dazu verfolgt. Ja, wenn ich es recht bedenke, meine ich, dass Trost nicht das unmittelbare Motiv sein sollte. Zu leicht besteht die Gefahr des Abrutschens in das rein Utilitaristische und Sozialarbeiterische. Schlimmer noch, es besteht die Gefahr der Vereinnahmung für die billige Illusion des nationalen Kollektivs, die – ohnehin nie wirklich von der Bildfläche verschwunden – nunmehr völlig schamlos in der mal pathetisch tremolierenden, mal fröhlich infantilisierenden Zugregisterrhetorik des Werbesprechs heraufbeschworen wird.
Im Augenblick dieser Vereinnahmung wird diese Art von Kunst – wenngleich wohl meist unabsichtlich oder doch auch fahrlässig – zum abgeschmackten Durchhalteschlager im Dienste der Schaffung einer positiv denkenden und gefügigen Masse und vergeht sich daher an menschlicher Vernunft, Individualität und Selbstbestimmung.

(VIII) Sollte Kunst dann vielleicht Kritik üben? Ja, ganz sicher, etwa an der erwähnten Volksgemeinschaftsrhetorik oder an den herrschenden Werthierarchien, die im politischen und im gesellschaftlichen Diskurs zu Tage treten. Am ökonomistischen Imperativ, am offiziellen Angstschüren, an der steten Geringschätzung und Beleidigung der Vernunft. – Allein, ich wünsche mir von der Kunst, dass diese Kritik sowohl im ästhetischen als auch inhaltlichen Anspruch streng und erbarmungslos ist und nicht ins biedere, leicht wegzulachende Kleinkünstelnd-Kabarettistische oder in resignativ-mitleidsvolle Betroffenheitsbekenntnisse abrutscht.

(IX) Doch soll Kunst bei Kritik stehen bleiben, bei quasi kritischer Kritik? Sollte sie nicht ihre vielfältigen Mittel nutzen, um andere mögliche Welten zu entwerfen? Gegenentwürfe zur Welt insgesamt oder auch nur zu kleinen Realitätsausschnitten? Utopien in unterschiedlichen Graden der Konkretheit oder Abstraktion, Schärfe oder Unschärfe erdenken? Vermutlich ist sogar der Bereich des Abstrakten und Unscharfen jenseits der analytischen und gestalterischen Reichweite philosophisch-politischer Theorie diejenige Gegend, in der Kunst ihr vorzügliches Betätigungsfeld suchen sollte. Dort kann sie sich in voller Freiheit entfalten und fungiert nicht nur als Medium der Vermittlung sprachlich vorformulierter Entwürfe, sondern als genuin explorative und gestaltende Kraft.

(X) Ich meine, mit der Arbeit im Utopischen ist schon ein sehr wichtiger Dienst benannt, den Kunst den Menschen derzeit leisten kann. Doch ich denke es gibt noch eine letzte Aufgabe von Kunst, die gerade jetzt vielleicht die höchste Dringlichkeit besitzt. In gewisser Hinsicht kann man sie als Zuspitzung des Utopischen verstehen. Ich möchte diese Aufgabe, in Ermangelung einer besseren Alternative, als „Schaffung von Transzendenz“ bezeichnen ohne hiermit jedoch irgendein Konzept esoterischer Weltflucht zu meinen.
Transzendenz bedeutet die radikale und idealerweise umfassende sinnliche und geistige Abstraktion von den verzweigten und verschlungenen Konkretionen unseres individualisierten alltäglichen Erlebens, ohne jedoch die empirische Welt als solche zu negieren. Es ist ein Rückzug – nein, ein vorwärtsschreitendes Eintreten in den Elfenbeinturm. Im Zustand der Transzendenz kann ordnende und sinnstiftende Rückschau und Kontemplation vollzogen werden. Sie bedeutet auch Trost durch Ablösung vom Irdischen und seinen Zumutungen und Belastungen. Sie bietet einen Raum, in dem kritische Impulse sich ungehindert fortsetzen und in der sich utopische Vorstellungskraft entfalten kann. In letzter Konsequenz endet die Schaffung von Transzendenz in einem Zustand müheloser ozeanischer Klarheit und Gelassenheit.

(XI) Es ist ein Abend Anfang Mai 2020 in Graz. Unaufhaltsam, aber im Charakter durchaus nicht unerbittlich, hat sich in Gerd Kührs Corona-Meditation ein abstrakter Klangraum entfaltet. Doch kaum kann ich die Raumstruktur in ihrer klar umrissenen Eindeutigkeit scharf und vollständig erkennen, kaum habe ich sichere Orientierung gefunden, wird der vermeintlich strengen Ewigkeit und Alternativlosigkeit die Antithese der Unschärfe entgegengesetzt. Ich werde in einen ebenso unaufhaltsamen Prozess der Auflösung, des Verlusts der eben noch haltbietenden Struktur gerissen, der zugleich als destruktiv-konstruktives Prinzip, also als kreatives Prinzip erfahrbar wird:
„Es könnte auch anders sein. So; oder auch so; oder auch vollkommen anders. Anders geordnet oder – jede Ordnung negierend – ins Chaotische und Fluide abrutschend. Ungewohnt, aber vielleicht besser – vielleicht aber auch schlechter.“
Jede Möglichkeit wird zugleich wieder in Frage gestellt, affirmatives Festhalten eines Zustands wird zur Unmöglichkeit. So wird der in stetiger Transformation befindliche Klangraum zur sprichwörtlichen Leiter, die zurückzulassen ist, sobald das Hindernis überwunden wurde. Transzendenz ist in allerletzter Konsequenz dort erreicht, wo auch das abstrakteste künstlerische Mittel – die Gestaltung durch Entsagung vom Gestalten – nichts mehr zu leisten vermag. Transzendenz besteht in jener prinzipiell unbegrenzten Stille fort, deren zeitweilige Störung notwendiges Mittel zur Erreichung eben jenes Zustands war. Hier – und doch nicht hier. Jetzt – und doch nicht jetzt. Ich – und doch nicht ich.

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