Traumarsenal 12

Podcast
Traumarsenal
  • Traumarsenal 12
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Einen Stein nach den Sternen werfen
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Traumarsenal 4

Das Traumarsenal kommentiert Träume ungebunden, unanalytisch und poetisch. Die Sendereihe bat wie ihr Vorbild, Robert Desnos’ Radioproduktionen “La clef des songes” von 1938, Hörerinnen und Hörer, Träume vorzulegen oder zu kommentieren.

 

Im zwölften und letzten Traumarsenal lesen wir einen langen Traum poetisch. Die Sendung steht im Zeichen von Desnos’ Gedicht „Mi-route“ – „Mittenwegs“: Es handelt von dem Zauber des Bruchteils einer Sekunde, genau dem Augenblick, in dem die Lebensmitte erreicht ist. Auf halbem Weg beenden wir unser Radioexperiment. Aber wer kann sagen, wo genau der Ort und die Zeit des halben Wegs sind, zumal beide keine messbare Substanz haben? Der besprochene Traum endet mit der Explosion einer Galaxie. Schöner kann man nicht aufhören…

 

Am Mikrofon ist Justin Winkler, das Gedicht von Desnos lesen Serge Pauthe und Vilja Neuwirth, den Traum liest Johanna Menhard, den Traumkommentar leistet Marlies Pratter. Ihre Stimmen stehen für die 20 Menschen, die mit ihren Stimmen und Gedanken die zwölf Begehungen des Traumarsenals begleitet haben.

 

Mi-route

« Il y a un moment précis dans le temps
Où l’homme atteint le milieu exact de sa vie,
Un fragment de seconde,
Une fugitive parcelle de temps plus rapide qu’un regard,
Plus rapide que le sommet des pâmoisons amoureuses,
Plus rapide que la lumière.
Et l’homme est sensible à ce moment.

De longues avenues entre des frondaisons
S’allongent vers la tour où sommeille une dame
Dont la beauté résiste aux baisers, aux saisons,
Comme une étoile au vent, comme un rocher aux lames.

Un bateau frémissant s’enfonce et gueule.
Au sommet d’un arbre claque un drapeau.
Une femme bien peignée, mais dont les bas tombent sur les souliers
Apparaît au coin d’une rue,
Exaltée, frémissante,
Protégeant de sa main une lampe surannée qui fume.

Et encore un débardeur ivre chante au coin d’un pont,
Et encore une amante mord les lèvres de son amant,
Et encore un pétale de rose tombe sur un lit vide,
Et encore trois pendules sonnent la même heure
À quelques minutes d’intervalle,
Et encore un homme qui passe dans une rue se retourne
Parce-que l’on a crié son prénom,
Mais ce n’est pas lui que cette femme appelle,

Et encore un ministre en grande tenue,
Désagréablement gêné par le pan de sa chemise coincé entre son pantalon et son caleçon,
Inaugure un orphelinat,
Et encore d’un camion lancé à toute vitesse
Dans les rues vides de la nuit
Tombe une tomate merveilleuse qui roule dans le ruisseau
Et qui sera balayée plus tard,
Et encore un incendie s’allume au sixième étage d’une maison
Qui flambe au cœur de la ville silencieuse et indifférente,
Et encore un homme entend une chanson
Oubliée depuis longtemps, et l’oubliera de nouveau,
Et encore maintes choses,
Maintes autres choses que l’homme voit à l’instant précis du milieu de sa vie,
Maintes autres choses se déroulent longuement dans le plus court des courts instants de la terre.
Il pressent le mystère de cette seconde, de ce fragment de seconde,

Mais il dit « Chassons ces idées noires »,
Et il chasse ces idées noires.
Et que pourrait-il dire,
Et que pourrait-il faire
De mieux ? »

Robert Desnos dans Les Sans Cou, 1953

 

Traumbericht

»Der Zug ist nicht besonders voll. Der Wagon besitzt eine eigenartige Mischung aus grauem Innenraum und zitronengelber Innenausstattung, die an manchen Stellen sogar orange ist. Alle stehen, keiner sitzt. Ein etwas grösser gewachsener Typ, der nicht aus diesem Land ist und den ich nicht kenne, erzählt mir, er studiere in Innsbruck. Dort geht der Zug hin, dort muss ich manchmal umsteigen. Meine Freundin und Designerin Jyothsna, die ich im Traum erkenne, erzählt mir, dass in diesem Wagon manchmal Unterricht stattfindet. Lustig, denn als Designinstitut hätte ich mir etwas Geschmackvolleres vorgestellt.

In Innsbruck angekommen bemerke ich schon die Menschen, die vor der Kirche warten. Zumindest von außen sieht es wie eine Kirche aus. Als die große Tür kurz offensteht, sehe ich die Musikgruppe, auf die ich mich schon so lange gefreut hatte: mit gitarren- oder ukuleleähnlichen Instrumenten; klein, rund und aus Holz, mit maximal fünf Saiten, aber schwer zu erkennen; begleitet von Percussions und alles gespielt von Japanern. Der Raum scheint kaum kaum beleuchtet zu sein. Hinter den Musikern erblicke ich einen Bildschirm mit undefinierbaren Motiven in Bewegung. Alles siegt ziemlich hip aus, aber cool. Die Tür schließt sich relativ schnell wieder und meiner Mutter und mir wird gesagt, dass wir erst später reingehen können. Die Leute werden gruppenweise zu den verschiedenen Sessions hineingelassen. Mein Bruder steht auch bei uns, scheint aber an der ganzen Sache relativ uninteressiert zu sein und verschwindet wieder.

Als wir endlich eingelassen werden hat es draußen hatte wohl mehrere Minusgrade, und Schnee verziert/erhellt die eingebrochene Nacht. Man führt uns zu einem Lift, der uns mehrere, vielleicht drei Stockwerke in die Tiefe fährt. Das Ambiente dort ist komplett anders: Wir kommen in einer hellen Wohnung an, genauer im Flur einer Wohnung. Es hat mehrere Zimmer zur Linken und zur Rechten, in die ein Sonnenlicht durch die Fenster herein scheint. Wenn man den nicht besonders langen Flur bis zu seinem Ende folgt, steht man vor einer offenstehenden Tür, die auf einen Garten hinausgeht. Dort scheint viel los zu sein: Kellner gehen mit Tabletts umher, auf denen es Champagnergläser und kleine Lachbrötchen hat. In einem der Räume treffe ich zufällig auf meine gute Freundin Florine. Ihre goldenen Locken sehen umwerfend aus im Sonnenlicht. Ich zeige ihr mein neues Handy und stelle fest, dass es entzweigebrochen ist. Florine nimmt eine Klebstreifenrolle aus ihrer Jackentasche und klebt es wieder zusammen. Das sollte zumindest vorübergehend helfen.

Seltsame Dinge geschehen hier, aber ich behalte einen kühlen Kopf und tue so, als sei alles normal. Meine Mutter finde ich nicht mehr wieder, ein Konzert ist weit und breit weder zu sehen noch zu hören. Ich muss etwas verloren wirken, denn ein junger Mann im Anzug mit roter Fliege tritt auf mich zu und mir teilt mir mit, dass das Konzert doch ein Stockwerk höher stattfände. Im zweituntersten Stockwerk. Doch auch dort ist weit und breit keine japanische Musikgruppe zu sehen oder zu hören. Alles sieht fast genauso aus wie im vorherigen Stockwerk, nur der Schnitt der Wohnung ist hier etwas anders: Ich gelange nicht in einen Flur, sondern direkt in einen Raum. Hier ist alles weniger sommerlich, weihnächtliche Dekoration verziert die Wände, und die Fenster sind dunkel und beschlagen. Die Anwesenden sehen um einiges anders aus als die Menschen in den anderen Stockwerken. Ich sehe Kreaturen, die ich in meinem Leben noch nie gesehen habe – und noch immer bleibe ich cool und tue so, als sei alles normal. Für alle hier scheint alles normal zu sein, und vielleicht ist das ihre Realität. Ein mittelgroßes Männchen aus Keks kommt auf mich zu. Er fängt ein Gespräch mit mir an. Um nicht unhöflich zu wirken, gehe ich darauf ein. Sein Name ist Pot und er scheint sich gerne zu reden zu hören. Er erzählt mir viel wirres Zeug, von dem ch nur wenig verstehe.

Zwei Armeen sind gerade dabei, gegeneinander aufzurüsten. Die auf der einen Seite sehen alle aus wie Menschen; Pot gebraucht das Wort Erdling; sie sehen aus wie Menschen, sind aber so klein wie Feen, die auf eine erwachsene Menschenhand passten. Die auf der anderen Seite sehen alle aus wie kleine Trolle, rot, mit blauen, hochstehenden Haaren; wie diese Plastikfiguren, mit denen man oft als Kind gespielt hat. Die Geschichte, die Pot erzählt geht wie folgt: Die Erdlinge fragen die rot-blauen Trolle, ob sie sich ihnen anschließen wollten, um gemeinsam gegen das Universumsmonster vorzugehen. Das Universumsmonster ist ein riesiges, weißes, weiches Wesen. Ich kann es mir gut vorstellen. Es sieht ähnlich aus wie Fuchur aus dem Film Die unendliche Geschichte, aber mit einem viel breiteren Kopf und Mund als dieser. Die Trolle lehnen das Angebot der Erdlinge ab und schließen sich dem Universumsmonster an. Pot ist auf der Seite der Trolle. Ich selbst kann mich nicht richtig entscheiden. Ich bin mir nicht sicher, ob ich für sie nun auch ein Erdling bin oder nochmal etwas Anderes. Aber das scheint egal, denn Pot und ich verstehen uns prächtig.

Pot fragt mich, ob ich auch zu Keks werden will. Perplex aber neugierig nicke ich nur mit dem Kopf. Und auf einmal sehe ich aus wie er. Er macht einen Luftsprung und ruft mir zu, ich solle das auch tun. Sobald ich in der Luft bin, scheint der Raum um uns zu verschwinden und es gibt nur noch das All und wir laufen vorwärts. Mit jedem Luftschritt bildet sich unter uns eine Brücke aus Keks, die hinter uns sogleich wieder zerbröselt. Irgendwann bekommen wir wieder festen Grund unter unsere Füße. Um uns bildet sich langsam eine Landschaft, über uns ist noch immer das Firmament voller Sterne. Alles ist grün und erinnert ein wenig an Irland. Aber ich kann nicht sagen, ob das immer noch die Erde ist. Genauso wenig weiß ich, ob das alles nur ein Traum ist. Ich zwicke mich in den Arm, doch nichts ändert sich. Von weitem sehe ich jemanden, einen Menschen wie mich, denn ich bin jetzt nicht mehr aus Keks. Er kommt auf uns zu. Es ist João! Ich verspüre Erleichterung. Er ist wenigstens jemand, der alles, was gerade passiert, bezeugen kann. Wir setzen und beide in den Schneidersitz und reden, als sei alles normal, aber beide wissen wir, dass irgend etwas merkwürdig ist. Pot rennt die ganze Zeit auf der Wiese herum. Diese ganze Sache erschöpft mich ziemlich. Ich muss das, was ich gerade erlebt habe, erst einmal verdauen. Einige meiner Fußzehen sind noch immer aus Keks, das beunruhigt mich, aber ich versuche, einfach nicht daran zu denken. Ich lege meinen Kopf in Joãos Schoss und nicke ein.

Kurze Zeit später schrecke ich auf. Mir hatte geträumt, ich fiele von einer Klippe. Um mich herum ist noch immer die knallgrüne Landschaft, die sich kilometerweit erstreckt. Auf der einen Seite sind Klippen zu sehen, darunter das Meer. Auf der anderen Seite steigt ein riesiger Hang hoch. Pot kommt auf uns zu, um uns mitzuteilen, dass der Kampf begonnen hat. Die Erdlinge sind nicht in Sicht, doch das heißt nichts. Anscheinend sind sie gut darin, sich in kleinen, verlassen wirkenden Dörfern am Hang zu verstecken. João fliegt davon, und bis heute kenne ich seine Meinung zu der ganzen Sache nicht. Jedenfalls scheint er über alles, was hier passiert, informiert zu sein und auch das Universumsmonster recht sympathisch zu finden. Ich hatte dieses noch immer nicht selbst getroffen. Pot erzählt mir, dass ein Zusammenprall mit dem Universumsmonster das Ende der Erde bedeutete. Eigenartigerweise erschüttert mich diese Nachricht nur halb. Ich vertraue meiner Wahrnehmung nicht mehr ganz und kann darum auch nicht mehr richtig feststellen, ob ich mich gerade auf der Erde befinde.

Auf einmal sehe ich es in der Ferne: das Universumsmonster. Es sieht aus, als sei es so groß wie ein Planet, denn es scheint so weit entfernt wie der Mond – der nicht zu sehen ist – und trotzdem so groß wie man sich so ein Wesen aus der Nähe vorstellt. Irgendetwas bewegt sich rasend schnell auf es, ich kann nicht erkennen, was. Ein Erdling kann es nicht sein, denn dafür was dieses Etwas zu groß. Es ist aber kleiner als das Universumsmonster. Ungebremst, wie ein Komet, rast es weiter –wie ein Komet, denn es fängt Feuer – während das Universumsmonster ruhig bleibt wie ein alter Hund oder eine alte Hündin: Ich weiß nicht, ob es ein Geschlecht hat. Es sieht diesem Etwas mit seinen riesigen Glubschaugen neugierig entgegen. Sein übertrieben riesiger Mund verzieht sich sogar zu einer Art Lächeln. Und dann, BUM! Eine dumpfe Explosion, für ihre Größe viel zu leise, dort, wo sich das Universumsmonster befindet. Alles an diesem Punkt, vermutlich einige hunderttausend Kilometer weit entfernt, leuchtet hell auf. Blau-weißer Galaxienstaub verpufft vor dem Sternenhimmel. Ich weiß ganz genau, dass die Erde – wenn es denn die Erde ist – sich in einem Bruchteil von Sekunde in Staub auflösen wird, wenn diese Staubwolke sie erreicht. Ich bleibe aber relativ relax und warte ab.

Da wache ich auf.«

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