Jude ist ein schwuler Teenager, der nicht nur offen, sondern geradezu offensiv mit seinem Schwulsein an der Schule umgeht. Dabei inszeniert er sich als verkannte Filmdiva, schminkt sich, gibt sich exaltiert – die jugendliche Pop-Version dessen, was die schwule Subkultur als stolze Tunte kennt. Seine beste Freundin ist Angela, mit ihr schwänzt er die Schule, lässt sich von ihr detailgetreu berichten, wie sie Sex mit immer wieder anderen Typen hatte und perfektioniert mit Angela vor allem seinen Bitch-Talk. Von allen anderen wird Jude meist Judy genannt – abschätzig, denn für Schwule gibt es unter Judes Altersgenossen nur Verachtung. Doch Jude genießt es, von den anderen verspottet, gedemütigt, sogar verprügelt zu werden, denn in diesen Momenten spürt er, dass er die Aufmerksamkeit der anderen auf sich gezogen hat. Und Aufmerksamkeit will Jude um jeden Preis, sein ganzes Leben legt er sich zurecht, als sei er ein Hollywood-Star, dem die Welt zu Füßen liegt. Doch hinter dieser Maske gibt es einen ganz anderen Jude, der freilich in dieser Selbstinszenierung keinen Platz finden kann: So kümmert sich Jude liebevoll um Keefer, seinen kleinen Halbbruder, der mit den Eskapaden der gemeinsamen Mutter und ihres vergammelten Lebensgefährten Ray, Keefers Vater, nicht zurecht kommt.
Jude akzeptiert dieses Außenseitertum, denn anders als behütete Zirkel in Großstädten uns oft weismachen wollen, steht der Pool unendlich vieler Möglichkeiten, dem, der sein Leben ernst nimmt, gerade nicht zur Verfügung, für ihn, in »Movie Star« ist das Jude, ist sein Innerstes und sein wahres Selbst sein Schicksal – und zwar ein eindeutig bestimmtes, wenn auch womöglich nicht immer ganz klares. Und so ist Judes Geschichte auch viel mehr als eine Pubertätsfantasie, sein vordergründiges Geplapper von der Sehnsucht nach einer Welt voller Glamour und Star-Verehrung eine tiefgründige Analyse eines jungen Schwulen, der sich Persönlichkeit aneignet. Ein Bildungsroman im klassischen Sinn also, der auch die Gefahren dieses Weges zeigt. Diese lauern nicht nur in den brutalen Anfeindungen, denen Jude ausgesetzt ist – die eigentlichen Gefahren gehen davon aus, dass Judes Traumwelt ein alles bestimmendes Eigenleben entwickelt, seine zärtlichen Seiten und seine unspektakulären Bedürfnisse verdrängt werden. Für Jude ist sein Extravagantes Auftreten ein Panzer, der ihn ebenso schützt wie einzwängt – ohne ihn könnte er nicht er selbst sein, mit ihm droht er zum Opfer seiner eigenen Rolle zu werden. Ein großer Roman verfasst also noch größerer Lesespaß, in Raziel Reids Heimat Kanada zurecht mit einem der renommiertesten Literaturpreise bedacht.
Raziel Reid: Movie Star, D 2016, 224 S., Broschur, Albino-Verlag