Zum Vorwurf des Völkermords an Israel

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Zum Vorwurf des Völkermords an Israel

Über einige Feinheiten der westlichen „regelbasierten Weltordnung“ – diesmal: Völkermord, streng juristisch betrachtet und verfolgt

Geht natürlich um den Vorwurf, den Südafrika gegen Israel erhebt und mit dem es vor den Internationalen Gerichtshof gezogen ist. Gemäß der „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ aus dem Jahr 1948 wurde der Völkermord in den Katalog der Großtaten eingeführt wurde, die sich Staaten wechselseitig verbieten – also einander offenbar sehr wohl zutrauen. Laut Text ist Genozid durch die Absicht gekennzeichnet, auf direkte oder indirekte Weise „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“, das gilt als „schwerstes Verbrechen gegen das Völkerrecht“.

Moderne bürgerliche Nationen haben dieses Verbot erlassen, nachdem es eine moderne bürgerliche Nation kurz vorher zu einem Höhepunkt beim Unterfangen gebracht hat, teilweise die menschliche Basis derjenigen Staaten auszurotten, deren Territorium sie sich als „Lebensraum“ erobern wollte; und einen Menschenschlag – die Juden Europas – in toto zu eliminieren. Das „Volk“, auf welches das faschistische Ausrottungsprogramm zielte, stellte nicht die Basis eines eigenen Staats dar, es war noch nicht einmal eine als solche irgendwie einheitlich organisierte, von anderen Volksteilen unterscheidbare „Gruppe“ – sondern war ein dem faschistischen Programm der Rettung der deutschen Nation entspringendes Konstrukt: Der faschistische Antikommunismus hatte es auf die Ausrottung aller sozialistischen Umtriebe abgesehen, die die Volkseinheit untergruben – gemäß seiner Logik also auf die Funktionäre der Bewegung, die offensichtlich das an und für sich gute deutsche Arbeitervolk zu solchen Umtrieben verführten; der reaktionäre Antikapitalismus der Faschisten zielte darauf ab, die Nation von der Knechtung durch das internationale Finanzkapital zu befreien – also von den Agenten einer kapitalistischen Bereicherung, die die Macht der Nation schädigten, und nicht stärkten. Den Feind seines Volkes machte Hitler in einem Kryptovolk aus, auf das er diese beiden Seiten seiner Kritik am Zustand der Nation projizierte und das er unter Rückgriff auf entsprechende Traditionen des aufgeklärten Abendlandes mit ‘den Juden’ identifizierte. So etwas sollte nach 1945 „nie wieder!“ vorkommen, also zumindest verboten und sogar bestraft werden.

Schutzobjekt der Konvention ist ein „Gruppe“ von Menschen wegen ihrer „nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen“ Gruppenidentität. Ob diese Gruppe ordentliches Staatsvolk eines Staats ist und von einem anderen Staat im Zuge eines Krieges als diese „Gruppe“ zum Opfer gemacht wird, ob sie dem Staat, der gegen sie vorgeht, als Volksteil angehört, ob überhaupt reguläre staatliche Gewalthaber oder nichtstaatliche Akteure zu Werke gehen, interessiert in diesem Zusammenhang ausdrücklich nicht. In einem eigenen Absatz wird dem Verbrechen des Völkermords ausdrücklich dessen politische Natur bestritten, das darf kein legitimer Gegenstand unterschiedlicher politischer Abwägungen sein, weswegen kein Staat für Missetäter die Auslieferung verweigern darf.

Das Verbot zielt auf die Staaten dieser Welt, denen hier per Verbot geboten­­ wird, die Existenz von „Gruppen“ zu akzeptieren, auch wenn die vom Standpunkt der Inhaber staatlicher Herrschaft aufgrund ihrer Ethnie, Religion oder Rasse nicht zur Selbstdefinition des jeweiligen Staates und zu seiner nationalen Einheit mit dem von ihm regierten Volk passen. Völkische, am Merkmal wie „Rasse“ oder an der „Religion“ entlang definierte ethnische Säuberungen sollte es nicht mehr geben, zumindest nicht als physische Vernichtung.

Dass hingegen Staaten mittels „nationaler, religiöser …“ „Identitäten“ sich, nämlich ihr allerhöchstes und unbezweifelbares Recht auf die Herrschaft über ihre jeweiligen Völker als Ausfluss aus und Dienst an deren „Natur“ definieren, ist dabei die nicht weiter interessierende, in der Konvention nicht einmal thematisierte Grundlage. Den Bedarf nach der Legitimation des Herrschaftsanspruchs auf und über die ihnen unterworfenen Menschen durch eine exklusive Eigenart des tatsächlich erst durch staatliche Gewalt hergestellten Kollektivs, den kennen alle Staaten von sich selbst, und den bestreiten sie einander auch nicht per Völkermord-Konvention. Dieser Bedarf gehört aber relativiert, Staaten verbieten sich praktisch, diejenigen Menschen-„Gruppen“ zu entsorgen, die sie als fremd und störend definieren.

Dieses Verbot ist die Ergänzung zum in anderen Regelwerken wie der UN-Menschenrechtscharta niedergelegten Gebot, dass Staaten die Menschen, die sie als ihr Volk beanspruchen und regieren, egalitär zu behandeln haben, als Staatsbürger, die gleichermaßen dem staatlichen Recht unterliegen. Wie auch immer sich die Staaten in Bezug auf den unverwechselbaren Volks-Charakter ih­­res besonderen Volkes und dessen Leit-Kultur definieren und legitimieren – praktisch müssen sie als Hüter der abstrakten Freiheit aller ihrer Bürger agieren, besondere Eigenheiten, Religion oder Ethnie war genannt, dürfen keine Rolle spielen.

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In dieser vornehm zurückhaltenden Funktion hat die staatliche Gewalt bekanntermaßen – nicht etwa nichts, sondern – sehr viel zu tun. Denn diese Abstraktion aufs politisch allein Maßgebliche, nämlich die Freiheit des Bürgers fern von jedem diskriminierenden Inhalt, hat selber den einen entscheidenden Inhalt, der tatsächlich ohne allgegenwärtige staatliche Gewalt nicht zu haben ist: das persönliche ausschließende Verfügungsrecht über das Eigene, worin auch immer das materiell besteht; eine Sphäre des gesetzlich geschützten Besitzes, was nicht besondere Güter als solche meint und betrifft, sondern die vom Staat garantierte Zugriffsmacht darauf. Eigentum, ökonomisch realisiert im Geld, der quantifizierten reinen Zugriffsmacht auf alles, ist der Stoff, die Konkurrenz darum der konkrete Inhalt der abstrakten Freiheit, die der Staat, wie er im Völkerrechtsbuch steht, zu gewährleisten hat. Diese Pflicht ist der Ausgangspunkt einer kompletten bürgerlichen Staatsräson, die das System der kapitalistischen Konkurrenz ums Geld und dessen Mehrung ausbuchstabiert und zur materiellen Grundlage der Staatsgewalt ausgestaltet, die es eben dafür braucht. Die Verpflichtung der Bürger auf den ewigen Konkurrenzkampf ums Geld ist die Wahrheit des Schutzes von Freiheit und Gleichheit „ohne Ansehen der Person“, den der Staat mit seiner Gewalt zu leisten hat.

Damit er das hinkriegt, das bürgerliche Erwerbsleben mit all seinen notwendigen Klassen- und sonstigen Interessengegensätzen als Quelle staatstragender Kapitalakkumulation anständig gelingt, muss es dem Staat vor allem anderen um sich gehen, um seine unbedingte Machtvollkommenheit als die unabdingbare Voraussetzung eines produktiven „sozialen Friedens“. Notwendigerweise macht er sich zum übergeordneten Zweck des gesellschaftlichen Lebens, das seine in­­takte Gewalt braucht. Das erweitert seinen Aufgabenkatalog enorm, bis hinein in die Konkurrenz der Staaten gegeneinander. In gleichem Maß wachsen seine Ansprüche an seine menschliche Basis; und mit denen das Bedürfnis der Herrschaft, ihre Bürger auf sich und ihren Konkurrenzerfolg einzuschwören. Für den sind die nicht mehr bloß als abstrakt freie, konkret tätige Konkurrenzsubjekte gefragt und gefordert, sondern als der besondere, willige Besitzstand ihres be­­sonderen, national definierten Souveräns. Sie werden als staatseigenes Volk in Anspruch genommen, ganz elementar als Einheimische von Ausländern ge­­schieden. Damit tut sich der weite Bereich der Definition und Erzeugung einer nationalen Identität auf, die ohne Diskriminierungen von anderer Art als der durch Eigentum, Klassenzugehörigkeit und Konkurrenzerfolg nicht auskommt. Unter diesem Gesichtspunkt, um sich ihre Konkurrenzgesellschaft als ihr ganz und exklusiv eigenes Volk zuzueignen und sich dem als Heimat zu empfehlen, nimmt auch die bürgerliche Staatsgewalt sich in Sachen rechtlicher Unterscheidungen durchaus grenzwertige Freiheiten heraus. Dass die hinter dem ersten Essential ihrer bürgerlichen Räson, die abstrakte Freiheit des konkreten Konkur­renzsubjekts in Kraft zu setzen, sachgerecht zurücktreten: das ist der wesentli­­che Inhalt der Menschenrechte, auf die der bürgerliche Rechtsstaat sich verpflichtet und an deren idealisierender Fassung als absolute Schutzansprüche des ­Einzelnen gegen die Staatsgewalt deren Inhaber gerne ihresgleichen bla­­mieren, um einer auswärtigen Herrschaft ihre Legitimität abzusprechen – was, nebenbei, im Ernstfall nicht abgeht ohne diskriminierendes Unwert-Urteil über deren Fußvolk.

Für die Ergänzung des Menschenrechtskatalogs um das Genozid-Verbot wa­­ren der nationalsozialistische Exzess millionenfacher Ausrottung und ein Entsetzen darüber, wozu ein antikommunistischer Volksstaat am Ende fähig ist, Anlass genug, aber für sich genommen nicht hinreichend, um so eine Vorschrift in Paragraphenform in die Welt zu setzen. Dieser deutsche Staat musste erst einmal bedingungslos, mitsamt seiner grässlichen Moral, zerstört werden, und es durfte auch nicht ein sozialistisches Klassenbewusstsein, sondern es musste das Ethos der Freiheit der Konkurrenz triumphieren, damit die Siegermächte sich darauf verständigten, ihrer Abrechnung mit dem großdeutschen Judenmord die fragwürdige Verbindlichkeit einer Verhaltensvorschrift für die Staatenwelt zu geben. Inwiefern fragwürdig, das zeigen die Verhandlungen um die einschlägige Anzeige der Republik Südafrika bei dem zuständigen UN-Gericht, die sich ausgerechnet indirekt gegen die USA richtet, die mit den Menschenrechten doch die Illegitimität aller anderen Staaten zu messen gewohnt sind, und noch viel ausgerechneter direkt gegen Israel, das seine ganze Existenz doch als Vorkehrung für nichts als gegen einen erneuten Genozid am ganz besonderen eigenen Volk verstanden und gewürdigt wissen will.

Denn das ist nun einmal die Kehrseite davon, dass Amerika seine Sieger­justiz gegenüber dem faschistischen Deutschland gleich in der Dimension eines dauer­haft verbindlichen, an der eigenen bürgerlichen Staatsverfassung orientierten Regelwerks für die gesamte Staatenwelt, also mit der Stoßrichtung einer Weltordnung unter seiner Führung ausgeübt hat: Dieses Regelwerk gilt jetzt formell und berechtigt in diesem Fall die Republik Südafrika streng konventionsgemäß dazu, angesichts des Krieges Israels zur Vernichtung der Hamas den Klageweg zu beschreiten und das dafür zuständige Gericht den Verdacht auf Völkermord prüfen zu lassen. Im Folgenden beweisen alle am Verfahren Beteiligten, was juristisch in der Konvention steckt und was politisch ihr sachgemäßer Gebrauch und ihre wirkliche Rolle ist.

*

Juristisch bemüht sich Südafrika um den Nachweis, dass im Falle des Krieges im Gazastreifen der Straftatbestand Genozid erfüllt ist, es tut dies ganz der Logik der Konvention folgend. Für die spielt bei tödlichen Großtaten vom Schlage des laufenden Krieges die entscheidende Rolle, ob die Absicht vorliegt und beweisbar ist, dass eine bestimmte, den Kriterien der Konvention entsprechende „Gruppe“ als solche ausgelöscht werden soll. Die schiere Menge der getöteten Menschen geht da als Bestandteil und Indiz ein, ist aber keineswegs hinreichend für den Tatvorwurf. Umgekehrt: Der überragende Gesichtspunkt, unter dem die einschlägigen Gewalttaten eine Rolle spielen, setzt die Gewalt und alle wirklichen Opfer zum Bestandteil der bösen Tat und zum Indiz für die böse Absicht herab. Und weil es bei der Konvention um ein Schutzmacht-Prinzip geht, an das sich Staaten zu halten haben, werden Verletzungen dieses Prinzips nicht erst bei gewaltsam vollzogener Elimination eines als schädlich definierten Unterkollektivs verboten, sondern schon da, wo verdächtige Anläufe sichtbar werden. Südafrika zi­­tiert jedenfalls die Fakten, die es für Argumente dafür hält, dass die juristischen Tatmerkmale in genügender Menge vorhanden sind: Die ganze Geschichte der israelischen Inbesitznahme des Landes und der Vertreibung, Ungleich- und Schlechtbehandlung der arabischen Bewohner; die früheren Kriege gegen den Gazastreifen und seine Blockade in den Zwischenkriegszeiten; aktuell den massenhaften Tod von Zivilisten; den be­­sonders massenhaften Tod von Frauen und Kindern – der wird völkermordjuristisch von Südafrikas Anwälten als Verhinderung der biologischen Reproduktion der „Gruppe“ gemäß Artikel II der Konvention interpretiert; die Zerstörung von Infra­struktur und ökonomischen Grundlagen bis zur Hin-und-her-Vertreibung der Bevölkerung im Gazastreifen; die von Israel mal ins Spiel gebrachte Verbringung der Gazawi nach Ägypten bis hin zur Zerstörung von Moscheen, Kirchen und Museen; die mangelnde Untersuchung, Ahndung, Verhinderung von entsprechenden Missetaten durch die zuständigen israelischen Stellen. Schutzgut der Konvention ist die „Gruppe“ der Palästinenser, und die ist nun einmal etwas anderes als die Summe ihrer individuellen Mitglieder. Darum müssen weder alle noch die Mehrheit der Palästinenser ‘physisch zerstört’ worden sein, um mit Fug und Recht vom absichtsvollen Zerstören der Gruppe „als Ganzes oder in Teilen“ sprechen zu dürfen. Jedenfalls gemäß der Logik der juristischen Vernunft, die sich hier abspielt.

Derselben Logik folgt konsequenterweise die Strategie der Ge­­genseite. Ein Streit um die grausigen Fakten findet so gut wie gar nicht statt; stattdessen betonen Israels Vertreter vor Gericht, dass es für die Glanzleistungen der israelischen Militärgewalt keinerlei genozidalen Vorsatzes bedarf. Sie leugnen auch nicht den Umstand, dass die zu diesem – wie zu jedem anderen – Krieg gehörende moralische Ertüchtigung des eigenen Volks ein gehöriges Maß an Hetze mit sich bringt, die ohne kollektives Unwerturteil über diejenigen weder auskommt noch auskommen soll, die als unmittelbare Feinde, Unterstützer oder Kollateralschäden zum Abschuss freigegeben sind. Sie betonen aber, dass noch so viel Hetze die Einsatzdoktrin der IDF nicht bestimmt und dass die humanistischste Armee in der Geschichte ohnehin die vielen Einzelfälle untersucht, in denen verhetzte Militärangehörige den nicht-genozidalen Felddienstvorschriften zuwidergehandelt haben. Nach Israels Auffassung muss es jedenfalls und vor allem gestattet sein, auch unter Inkaufnahme von vielen zivilen Opfern zu der ­Selbstverteidigung zu schreiten, ohne die es selber zum potenziellen Opfer eines antijüdischen Ge­­nozids der Hamas würde, zu der und zu deren Kämpfern die im Gazastreifen produ­zierten Toten als menschliche Manövriermasse oder auch bloß als unfreiwillig Anwesende nun mal dazugehören. Absichtlich werden keine militärisch unnötigen Opfer herbeigeführt, was in der Abstraktion sicher stimmt – die Herstellung unnötiger Opfer wäre vom Standpunkt jeder ordentlichen Armee schließlich Munitionsverschwendung.

Insgesamt ein Lehrstück über ‘Völkermord’ als Rechtsverstoß – und seine juristischen Feinheiten; und das liegt nicht an einem Mangel an Klarheit über die Ereignisse, einer schwammigen Definition oder dergleichen, sondern an der Sache. Die ­Gewalt von Staaten über ihre Völker wird von der modernen internationalen Rechtsordnung anerkannt und mit positiven und negativen Anforderungen umzingelt. Die sind vordergründig solche des Rechts und seiner Paragraphen; der Sache nach verdanken sie sich dem Gewaltvorbehalt Amerikas und seiner verbündeten Mächte gegen alle an­­deren oder, umgekehrt: Dem Hegemonialanspruch der USA. Gerade dessen rechtliche Verallgemeinerung u.a. in einer multilateralen Konvention bietet den Anknüpfungspunkt für das zwar viel kleinere, aber auch ansehnliche Südafrika, nun ihrerseits auf der Ebene des Rechts seine Unzufriedenheit mit den USA und seinem Geschöpf Israel anzumelden.

Politisch bezieht sich Südafrika auf den Gaza-Krieg vom Standpunkt einer Macht, die nicht nur für sich selbst, sondern für die etwas unscharf definierte Gruppe der Staaten des „Globalen Südens“ agiert: Staaten, die sich einerseits redlich darum bemühen, im Rahmen der etablierten Staatenkonkurrenz um ökonomischen Reichtum und politisches Gewicht zu reüssieren, und die genauso wie alle anderen Staaten in der Doppelrolle als dem internationalen Recht Unterworfene und zugleich als Gestalter dieses Rechts agieren wollen; die aber damit konfrontiert sind, dass eine kleine westliche Staatenelite praktisch das Monopol beansprucht, die Regeln für die regelbasierte Ordnung zu setzen, zu ändern, vor allem aber Regelverstöße zu definieren, und damit ihre gerechte westliche Gewalt zu begründen, mit der sie gegen die andere vorgeht. Israel stößt diesen Staaten als eine Ausnahme der Ordnung auf, auf die sie sich (haben) verpflichten (lassen). Tatsächlich stellt Israel insofern eine Ausnahme von der amerikanischen Ordnung einer zivilen Staatenwelt dar, die für den Nutzen des kapitalistischen Amerika ausgerichtet ist, als dieser Staat sich nicht nur dauerhaft im Kriegszustand befindet, sondern den Krieg gegen seine Feinde als seine Existenzweise beschwört; sein Volk definiert er als die Gesamtheit der Juden der Welt, für die er sich über jede staatliche Grenze hinweg als Schutzmacht versteht, und deren ihr zustehendes Land immer noch nicht vollständig erobert wurde; die im Bereich seiner Herrschaft lebenden Araber definiert er als Bürger zweiter Klasse oder gleich als Nichtbürger und behandelt sie den guten Sitten zuwider, die für eine moderne kapitalistische Staatsmacht, die Israel schließlich auch ist, gelten sollen. Die Fähigkeit und Freiheit dazu, permanent im Unfrieden nach außen und in nicht abschließend erledigter völkischer Sortierung nach innen zu agieren, die hat Israel, weil Amerika es zulässt und unterstützt. An Israel bekommt Südafrika und alle anderen Staaten, deren Un­­zufriedenheit es vertreten will, permanent vorgeführt, dass Amerika sich über die Ordnung stellt, auf die es die Welt verpflichtet; an Israel be­­kommen sie vorgeführt, wie groß die wirkliche Freiheit ist, die sich Amerika nimmt und diesem Verbündeten zugesteht, allein mit der Überlegenheit der ­Waffen jeden Einspruch anderer Mächte aus dem Weg zu räumen. In der – auch vor dem IGH gebrauchten – Bezeichnung von Israel als einem „Projekt des westlichen Siedler-Kolonialismus“ wird kenntlich, dass Südafrika und die anderen Vertreter des „Globalen Südens“ den Widerspruch, den sie mit der amerikanischen Weltordnung haben, sowie den aktuellen Stand dieses Widerspruchs auf den Sonderfall des militant-zionistischen Staats der Juden projizieren: Ihre Versuche, in der Weltordnung und mittels deren Re­­geln den damit gesetzten Erfolgsmaßstäben zu genügen, ­brechen sich in letzter Instanz an der puren Gewaltüberlegenheit Amerikas und seiner Verbündeten, mit der „der Westen“ für alle anderen das internationale Recht setzt.

An den Gewaltverhältnissen, aus denen die Regeln und Instanzen der Vereinten Nationen gekommen und juristisch verallgemeinert wurden, daran ändert sich nichts dadurch, wenn Südafrika gegen alle guten Absichten Amerikas den Klageweg gegen seinen Verbündeten beschreitet. Darum geht der Krieg auch erst einmal so weiter, wie ihn Israel führt und von seinen Verbündeten praktisch und moralisch unterstützt wird. Deutschland sieht sich darüber hinaus mit einer Anklage wegen Beihilfe konfrontiert. Einfach ignoriert werden diese Klagen nicht. Das ist Israel seinem Rechtsstandpunkt und das sind die USA ihrem Standpunkt schuldig, dass ihre Ansprüche auf Unterordnung aller anderen Staaten mehr sind als das, nämlich anerkanntes Recht, dem zu genügen nicht nur der Angst vor der Abschreckungsmacht Amerikas geschuldet sein soll, sondern der Anerkennung der Verbindlichkeit und Nützlichkeit eines internationalen Rechts für jedes nationale Interesse. Israel verkündet, dass es seinen Krieg von keinem Schiedsspruch abhängig machen wird, und entsendet seine Vertreter vor den IGH, die dort nach dessen Regeln agieren; die USA kritisieren den Schritt Südafrikas und äußern zugleich, dass die Richter hoffentlich richtig rechten werden.

Das politisch und moralisch doppelt aufgestellte Deutschland findet nach kurzer Irritation seinen Umgang, wenn es ausgerechnet von Nicaragua wegen Beihilfe vor Gericht gezerrt wird. Deutsche Politik und Öffentlichkeit bestehen darauf, dass gerade ihre Nation für die regelbasierte Weltordnung und die Rolle einschlägiger Instanzen und Gerichte eintritt, wenn zugleich daran festgehalten wird, dass Israels Gewalt per se Notwehr ist, die zu unterstützen qua Vergangenheitsbewältigung deutsche Staatsräson ist. Deutschland ist vor allem demonstrativ beleidigt; wo es sich doch seit jeher gegen verbotenen Mord und Totschlag ­einsetzt und nicht nur der zweitgrößte Munitions- und Waffenlieferant Israels, sondern auch einer der größten Geldgeber für humanitäre Hilfe im Gaza­­streifen ist. Selbstverständlich ist die deutsche Nation nach kurzem hin und her mit sich im Reinen, darüber, dass der Völkermord-Vorwurf die zur deutschen Staatsmoral gehörende hermetische Gleichsetzung von Kritik an israelischer Staatsgewalt und Antisemitismus bestätigt. Weil Genozid eine staatliche Gewalt absolut ins Unrecht setzt, der Vorwurf also auf totale Delegitimierung zielt, beweist jeder, der diesen Vorwurf gegen Israel erhebt, dass er die Juden der Welt ihrer staatlichen Schutzmacht, also des einzigen wirksamen Schutzes davor berauben will, dass sie demnächst erneut das Opfer des Genozids werden. Die Vertreter Deutschlands genieren sich nicht, ihre feine Geschichte als Beweis zu prä­­sentieren: Ohne eine total überlegene israelische Staatsgewalt, die sich alles erlaubt, was sie für nötig hält, kein jüdisches Leben auf der Welt – „wir“ haben es doch vorgemacht; auch so geht Vergangenheitsbewältigung. Deutschland hat seit der Niederlage die historisch einzigartige Wende geschafft, die totale Niederlage in ein moralisches Schuldeingeständnis zu verwandeln, und das damit präsentierte schlechte Gewissen in das gute Gewissen des geläuterten Täters zu verwandeln – der sich deswegen allen anderen Staaten gegenüber als Richter aufspielt und ihnen erklärt, wie ordentliche Staatsgewalt zu gehen hat. Also steht fest, dass mit Blick auf die deutsche Vergangenheit jedes arabische Opfer ­israelischer Gewalt im Prinzip in Ordnung geht, weil Israel mit dieser Gewalt nur die Gewalt nachholt, die den Juden damals gefehlt hat, also mit dieser Gewalt gegen Araber die eliminatorische Gewalt wiedergutmacht, die Deutschland ihnen angetan hat. Wiedergutmachung monströser deutscher Staatsverbrechen auf Kosten unbeteiligter Dritter: Tolle Sache! Quod erat demonstrandum: Der Genozid-Vorwurf ge­­gen Israel ist Antisemitismus und damit der Absicht nach selber Genozid.

Literatur:

https://de.gegenstandpunkt.com/archiv/dossiers/abweichende-meinungen-zum-israel-gaza-krieg

https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/weltpolitik-strafgericht

https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/streit-internationalen-strafgerichtshof

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