Buchrezension_ Megan Warin: Abject Relations. Everyday Worlds of Anorexia. New Brunswick, New Jersey and London: Rutgers University Press, 2010

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«Wie der schlanke, abgemagerte Körper zum sozialen Spektakel wird, hat uns Franz Kafka in seiner Kurzgeschichte „Ein Hungerkünstler“[1] überliefert. Es handelt sich dabei um eine Form bezahlter Unterhaltung, die um die Wende vom 19. zum 20. Jhdt. in Europa im Rahmen karnevalesker Veranstaltungen populär geworden ist. In einem mit Stroh austaffiertem Käfig fastet der männliche Hungerkünstler bei Kafka für 40 Tage und Nächte; er wird von Metzgern bewacht, die darauf achten, daß er keine Nahrung zu sich nimmt und er wird von der neugierigen Menschenmenge beobachtet; zuzeiten streckt der Hungerkünstler einen Arm durch die Gitterstäbe des Käfigs, um einzelne Besucher fühlen zu lassen, wie mager er ist.

Um nicht zu sehr auf Details dieser Geschichte einzugehen, sei nur darauf hingewiesen, daß Warin versucht, Parallelen zu ziehen zwischen einem solchen karnevalesken Spektakel von Hungerkünstlern und den modernen und zeitgenössischen Erfahrungen und Faszinationen rund um die Anorexie. Trotz der offensichtlichen Differenzen mit Blick auf Gender, Raum und historische Epoche, zeigen sich hier Ähnlichkeiten hinsichtlich der Inszenierung und visuellen Konsumtion abgemagerter Körper in einem öffentlichen Spektakel. Es ist eben die Zur-Schau-Stellung des abgemagerten Körpers, die im öffentlichen Spektrum Faszination und Schrecken auf sich zieht. Die farbigen Fotografien von abgemagerten, halbnackten Frauen oder Mädchen in Hochglanzmagazinen spielen mit dieser Ambivalenz aus erotischem Anreiz und purem Schock. Indem Stellvertreter der Medienwelt, wie Reporter oder Fotografen, sich einzig auf das visuelle Spektakel der Anorexie konzentrieren, wird der weibliche Körper positioniert und reproduziert als ein öffentlicher, zu begutachtender, zu bewertender und abzuschätzender Körper, der in stete Sichtbarkeit gedrängt wird. Es ist, als würde man anorektische Frauen dazu verurteilen, in dieser perennierenden Sichtbarkeit zu leben; zugleich aber so, als würden sie es zuzeiten selbst als Pflicht ansehen, ihren Körper öffentlich sichtbar und für ein bewertendes Publikum visuell konsumierbar zu machen.

 

„Anorexia is reduced to a camivalesque image that is represented by femaleness, thinness, illness, horror, fascination, and death.”[2], so argumentiert Warin in ihrem erwähnten Artikel.»

[1] Kafka, Franz (1988): Ein Hungerkünstler. Vier Erzählungen. — S. Fischer Verlag: Frankfurt am Main.

[2] Warin, Megan (2004): Primitivising Anorexia: The Irresistible Spectacle of Not Eating . – Australian Journal of Anthropology 15 (1): 95-104 p. 96

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«Spiegelt sich in solchen medialen Repräsentationen hinsichtlich der Nahrungsaufnahme und hinsichtlich des weiblichen Körpers also tatsächlich ein weißer, männlicher Blick, so läßt sich erahnen, dass sich eben in diesem männlichen Blick, von dem die medialen Repräsentationen ihren Ausgang nehmen, auch ein ethnozentristischer Drang zur Überlegenheit und zur Dominanz manifestiert. Eben ein solcher Drang, die Krankheit der Anorexie aus einer überlegenen Außenperspektive zu betrachten und stereotype Bilder über Betroffene zu konstruieren, ist angesprochen, wenn davon die Rede ist, daß in der zeitgenössischen medialen Welt die Anorexie nicht selten einer gewissen Primitivisierung unterliegt. Dieser Primitivismus manifestiert sich in Repräsentationen der Differenz, der Distanz und der Andersheit. Primitivismus ist gleichsam, wie die Autorin gemeinsam mit anderen Autoren festhält, ein „Korpus aus Ideen, Bildern und Vokabularien über kulturell Andere“,[1] der häufig dazu benutzt wird, Andersheit und Identität durch variierende, soziale Felder hindurch zu konstruieren und zu imaginieren. Primitivismus trifft man als ein auswechselbares Register der Sprache und der Vorstellungswelt nicht nur in der Kunst und der Literatur, sondern auch in der Anthropologie und in der Psychologie an. Als ein bestimmter Modus der Konstruktion von Identität und Andersheit ist diesen primitivistischen Vorstellungen gemein, dass sie darauf abzielen, die männlich dominierte, westliche Industrie- und Finanzgesellschaft als eine normierte und normierende soziale Welt zu begreifen, von welcher her die restliche Welt als minder, unterlegen, anders, abweichend, unterworfen und unterwerfbar angesehen wird. Primitivismus ist jedoch nicht begrenzt auf solche kulturellen Konstruktionen der Andersheit, sondern durchdringt gerade auch die Art und Weise, in welcher das Selbst imaginiert wird und damit das Selbst sich selbst imaginiert. Als ein solches Instrument der Reflexivität und der Konstruktion des Anderen dient die primitivistische Weltsicht der westlichen Hemisphäre vor allem dazu, sich eine eigene Identität zu konstruieren, sich selbst kennenzulernen, abgegrenzt von dieser gleichwohl konstruierten Andersheit als einem fernen oder exotischen Ort oder aber als einer bedrohlichen Präsenz, die verdeckt unter der Oberfläche des eigenen Hier und Jetzt zu lauern scheint. Solcher Art werden primitive Konstruktionen vor allem dazu verwendet, Wissen darüber zu akkumulieren und die Grenzen dessen abzustecken, was in der soziokulturellen Sphäre als das Verbotene, das Tabuierte erscheint: hier also vor allem dessen, was der Bürger als Wahnsinn bezeichnet – die psychologische oder psychiatrische Irritation. Der primitivistische Korpus an Ideen, Bildern und Repräsentationen wird zum wesentlichen und grundsätzlichen Mittel der westlichen Psychiatrie das zu begreifen und zu verstehen, was sie als mentale Krankheit bezeichnet.»

[1] Warin, Megan (2004), ibid., p. 99

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