Diagnostik als Impulsgeber der Medikalisierung des Kinderschutzes.
Felicitas Söhner (Düsseldorf)
Kinder und Heranwachsende sind eine vulnerable Bevölkerungsgruppe, deren Schutz vor Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung in unserer Gesellschaft als zentrales Gut und moralische Verpflichtung verstanden wird (Vgl. Fegert et al., 2010, S.18). Das Verständnis eines moralischen Gebots, Kinder zu schützen, ist keineswegs ein Phänomen der Moderne. Kinderschutz, und damit Misshandlung und Missbrauch von Kindern, sind als Gegenstand der Medizin ein relativ junges Phänomen. Zwar ist die Problematik keine Erscheinung der modernen Gesellschaft, doch das Verständnis einer Zuständigkeit von Medizin für den Kinderschutz hat sich erst im 19. Jahrhundert entwickelt. Vorher wurde es vielmehr als soziales Problem verstanden. Zunächst war es vor allem die Gerichtsmedizin, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit Gewalt gegen Kinder unter medizinischen Gesichtspunkten befasste. Die moderne, institutionalisierte Ausprägung des Kinderschutzes fand ihre Anfänge mit der Gründung verschiedener lokaler Gesellschaften, die sich für Kinderrechte einsetzten. Die historische Entwicklung der Medikalisierung des Kinderschutzes unterlag einem konstanten Wandel. Dieser drückt sich aus in einer zunehmenden Verbreiterung der Debatte und einer zunehmenden Differenzierung innerhalb des Fachbereiches Medizin. Dieser Prozess baut auf dem wachsenden Wissen über Missbrauch und zunehmenden diagnostischen Möglichkeiten auf. Die fachliche Auseinandersetzung stand immer in Zusammenhang mit dem medialen, öffentlichen Diskurs, der bis in die späten 1960er Jahre hinein geprägt war von einer Tabuisierung der Offensichtlichkeit und ihrer moralischen Folgen. Diese Haltung änderte sich stark durch die Publikation Henry Kempes, dessen Diagnostik einen sichtbaren Beweis erbrachte, der in seiner Prägnanz und Eindeutigkeit nicht mehr verdrängt oder umgedeutet werden konnte. Durch die Arbeit des Pädiaters Henry C. Kempe und seines ‚Child Protection Teams‘ in Denver setzte ein Paradigmenwechsel im medizinischen Kinderschutz ein. Kempes Beitrag initiierte eine fachliche Debatte und lässt sich als Katalysator der medizinischen Auseinandersetzung mit der Thematik verstehen (Vgl. Kruse, 1993, S.5). Dieser Beitrag untersucht, wie die Etablierung neuer Diagnosemöglichkeiten durch die technische Entwicklung, die sozialpolitische Gemengelage sowie Phasen verstärkter medialer Aufmerksamkeit eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung von Kindern ermöglicht und unterstützt haben. Die dazu angeführten Beispiele stellen die Komplexität der Geschichte des medizinischen Kinderschutzes dar im Hinblick auf die gesellschaftlichen Akteure, Fragen der Diagnostik, die öffentliche Wahrnehmung und politische Interventionsstrategien.