Die psychiatrische und pädagogische Konstruktion des „psychopathischen“ Kindes um 1900.
Nina Balcar (Bremen)
Im Zentrum meines Beitrages steht der interdisziplinäre Diskurs von Psychiatern und Pädagogen über das „schwer erziehbare“ Schulkind, das sie um die Jahrhundertwende immer häufiger als „psychopathisch“ einstuften. Die diffuse „Modediagnose“ eignet sich besonders gut als Analysekategorie, anhand derer die zeitgenössischen bürgerlichen Sorgen um und Erwartungen an das Kind zum Ausdruck kommen. Die „psychopathischen“ Schulkinder erschienen den „Kinderseelenforschern“ (Wilhelm Ament) gleichermaßen gefährdet als auch gefährlich zu sein, sodass sie eine besondere Beschulung oder gar Therapie in speziellen Anstalten für erforderlich hielten. Die erste Anstalt für „schwer erziehbare“ – später dann „psychopathische“ – Kinder war die private Heilerziehungsanstalt auf der Sophienhöhe bei Jena, die der ambitionierte Volksschullehrer Johannes Trüper mit Unterstützung durch die Jenenser Psychiater Otto Binswanger und Theodor Ziehen sowie den reichsweit einzigen Pädagogikprofessor Wilhelm Rein im Jahre 1890 gründete. Die Sophienhöhe war die weltweit erste interdisziplinäre Institution, deren heilpädagogisches Programm auf die „Behandlung“ „psychopathischer“ Zöglinge abzielte und somit einen wissenschaftlichen Anspruch erhob. Zahlreiche BesucherInnen hospitierten auf der Sophienhöhe und gründeten ähnliche Anstalten im In- und Ausland. Die Sophienhöhe galt, obwohl sie ihre Klientel ausschließlich aus wohlhabenden Gesellschaftskreisen rekrutierte, als Grundstein der späteren schichtenübergreifenden Psychopathenfürsorge. Die Anstaltsärzte und Pioniere der Kinderpsychiatrie Theodor Ziehen und Wilhelm Strohmayer nutzten die Zöglinge als „Beobachtungsmaterial“, so der zeitgenössische Sprachgebrauch, für ihre wissenschaftlichen Fallstudien über das „psychopathische“ Kind. In dem Beitrag werde ich erstens die Genese des Psychopathiekonzepts nachzeichnen, zweitens aufzeigen, welche Vorstellungen von sozialer Norm und Devianz – psychischer Gesundheit und Krankheit – sich hinter dem Psychopathiekonzept verbargen resp. erst durch dieses hervorgebracht wurden. Dabei sollen drittens Unterschiede und Gemeinsamkeiten der pädagogischen und psychiatrischen Wissensordnungen verglichen werden.
Moderation: Maria A. Wolf, Innsbruck