16 – Nina Balcar (Bremen) Die psychiatrische und pädagogische Konstruktion des „psychopathischen“ Kindes um 1900

Podcast
Medikalisierte Kindheiten – Die neue Sorge um das Kind vom ausgehenden 19. bis ins späte 20. Jahrhundert
  • 16_med_kind_nina_balcar_ohne_diskussion
    22:26
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27:09 perc
01 - Eröffnung der Tagung Medikalisierte Kindheiten
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28:52 perc
02 - Maria A. Wolf (Innsbruck) Medikalisierung der Sozialen Frage und wissenschaftliche Neuordnung der Kindheit
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21:39 perc
03 - Kristina Schierbaum (Frankfurt) Janusz Korczak im Spannungsfeld von Pädiatrie und Pädagogik
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28:34 perc
04 - Irene Berkel (Innsbruck) Die Neuvermessung der Kindheit in der psychoanalytischen Klinik und Theorie
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30:38 perc
05 - Klara Meßner und Rodolfo Tomasi (Bozen) Nach zwei Diktaturen zur Demokratie Erwachsenen-, Kinder-Jugendpsychiatrie in Südtirol
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34:18 perc
06 - Elisabeth Dietrich-Daum (Innsbruck) Die Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation von Maria Nowak-Vogl (1947–1987). Projektbericht
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17:31 perc
07 - Mirjam Janett (Basel) Die „behördliche Sorge“ um das Kind. Kindswegnahmen in Basel von 1945 bis 1972
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17:26 perc
08 - Keber Katharina (Ljubljana) Post WWI children healthcare in Central Slovenia as experienced by Angela Boškin, the first Slovenian home care nurse
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39:43 perc
09 - Christine Hartig und Sylvelyn Hähner-Rombach (Ulm und Stuttgart) Institution, Zeitzeugen, Narration. Re-Konstruktionen der Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation
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27:28 perc
10 - Elisabeth Malleier (Wien) Die Sorge, meine Akte und ich

Die psychiatrische und pädagogische Konstruktion des „psychopathischen“ Kindes um 1900.
Nina Balcar (Bremen)

Im Zentrum meines Beitrages steht der interdisziplinäre Diskurs von Psychiatern und Pädagogen über das „schwer erziehbare“ Schulkind, das sie um die Jahrhundertwende immer häufiger als „psychopathisch“ einstuften. Die diffuse „Modediagnose“ eignet sich besonders gut als Analysekategorie, anhand derer die zeitgenössischen bürgerlichen Sorgen um und Erwartungen an das Kind zum Ausdruck kommen. Die „psychopathischen“ Schulkinder erschienen den „Kinderseelenforschern“ (Wilhelm Ament) gleichermaßen gefährdet als auch gefährlich zu sein, sodass sie eine besondere Beschulung oder gar Therapie in speziellen Anstalten für erforderlich hielten. Die erste Anstalt für „schwer erziehbare“ – später dann „psychopathische“ – Kinder war die private Heilerziehungsanstalt auf der Sophienhöhe bei Jena, die der ambitionierte Volksschullehrer Johannes Trüper mit Unterstützung durch die Jenenser Psychiater Otto Binswanger und Theodor Ziehen sowie den reichsweit einzigen Pädagogikprofessor Wilhelm Rein im Jahre 1890 gründete. Die Sophienhöhe war die weltweit erste interdisziplinäre Institution, deren heilpädagogisches Programm auf die „Behandlung“ „psychopathischer“ Zöglinge abzielte und somit einen wissenschaftlichen Anspruch erhob. Zahlreiche BesucherInnen hospitierten auf der Sophienhöhe und gründeten ähnliche Anstalten im In- und Ausland. Die Sophienhöhe galt, obwohl sie ihre Klientel ausschließlich aus wohlhabenden Gesellschaftskreisen rekrutierte, als Grundstein der späteren schichtenübergreifenden Psychopathenfürsorge. Die Anstaltsärzte und Pioniere der Kinderpsychiatrie Theodor Ziehen und Wilhelm Strohmayer nutzten die Zöglinge als „Beobachtungsmaterial“, so der zeitgenössische Sprachgebrauch, für ihre wissenschaftlichen Fallstudien über das „psychopathische“ Kind. In dem Beitrag werde ich erstens die Genese des Psychopathiekonzepts nachzeichnen, zweitens aufzeigen, welche Vorstellungen von sozialer Norm und Devianz – psychischer Gesundheit und Krankheit – sich hinter dem Psychopathiekonzept verbargen resp. erst durch dieses hervorgebracht wurden. Dabei sollen drittens Unterschiede und Gemeinsamkeiten der pädagogischen und psychiatrischen Wissensordnungen verglichen werden.

Moderation: Maria A. Wolf, Innsbruck

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