Die „Rettung der Cretinen“
Irmtraut Sahmland (Marburg)
Vermehrt seit 1850 fand eine intensive Auseinandersetzung über Cretinismus statt, eine Form geistiger Behinderung, die sowohl als epidemische wie auch als sporadische Form beobachtet wurde, über deren Ursachen man jedoch keinerlei gesicherte Erkenntnisse hatte. So war die Erkrankung auch nicht präzise abgrenzbar, sondern stand oftmals synonym für Idiotismus, Blödsinn oder Schwachsinn. Unterteilungen in Voll-, Halb- und Viertelcretine sollten die abgestuften Schweregrade markieren. Es war insbesondere der Arzt Guggenbühl, der auf dem Abendberg bei Interlaken in der Schweiz eine erste Heilanstalt für cretine Kinder einrichtete mit dem ambitionierten Ziel, deren als retardierte Entwicklung oder Hemmungsbildung verstandene geistige und körperliche Beeinträchtigungen durch geeignete Maßnahmen in stationärer Pflege ausgleichen und ihnen eine gute Prognose geben zu können. Der Abendberg erregte international großes Aufsehen, scheiterte jedoch letztlich, so dass die Anstalt um 1860 geschlossen wurde. Gleichwohl war dies die Initialzündung zur „Medikalisierung“ von Kindern und Jugendlichen mit zum Teil schwerwiegenden geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen. In vielen Regionen wurden Anstrengungen unternommen, um das Vorkommen der Erkrankung zu erfassen, einerseits durch statistische Erhebungen, andererseits durch Feldforschungen reisender Ärzte. In Verbindung damit wurden Heil- und Pflegeanstalten für cretine und idiotische Kinder gefordert. Bis 1881 werden allein in Deutschland 32 solcher Anstalten aufgeführt, die sich in Trägerschaft, Größe und finanzieller Ausstattung sehr unterschieden. Das Interesse des Beitrags zielt auf die Rekonstruktion der Argumente, Intentionen und Strategien der unterschiedlichen Protagonisten in diesem Aktionsfeld. Die Diskussion wurde sowohl von Ärzten wie auch von Pädagogen und Theologen geführt; deren Blick auf die kranken Kinder und Jugendlichen erweist sich jeweils als sehr verschieden. Darüber hinaus geht es zwischen den verschiedenen Disziplinen um die Deutungsmacht über den Bedarf der kranken Kinder und die angemessene Form der Hilfsangebote sowie das Aushandeln von Interaktionsmöglichkeiten in den Anstalten.
Moderation: Lisa Pfahl, Innsbruck