12 – Irmtraut Sahmland (Marburg) Die „Rettung der Cretinen“

Podcast
Medikalisierte Kindheiten – Die neue Sorge um das Kind vom ausgehenden 19. bis ins späte 20. Jahrhundert
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    29:11
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27:09 perc
01 - Eröffnung der Tagung Medikalisierte Kindheiten
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28:52 perc
02 - Maria A. Wolf (Innsbruck) Medikalisierung der Sozialen Frage und wissenschaftliche Neuordnung der Kindheit
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21:39 perc
03 - Kristina Schierbaum (Frankfurt) Janusz Korczak im Spannungsfeld von Pädiatrie und Pädagogik
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28:34 perc
04 - Irene Berkel (Innsbruck) Die Neuvermessung der Kindheit in der psychoanalytischen Klinik und Theorie
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30:38 perc
05 - Klara Meßner und Rodolfo Tomasi (Bozen) Nach zwei Diktaturen zur Demokratie Erwachsenen-, Kinder-Jugendpsychiatrie in Südtirol
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34:18 perc
06 - Elisabeth Dietrich-Daum (Innsbruck) Die Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation von Maria Nowak-Vogl (1947–1987). Projektbericht
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17:31 perc
07 - Mirjam Janett (Basel) Die „behördliche Sorge“ um das Kind. Kindswegnahmen in Basel von 1945 bis 1972
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17:26 perc
08 - Keber Katharina (Ljubljana) Post WWI children healthcare in Central Slovenia as experienced by Angela Boškin, the first Slovenian home care nurse
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39:43 perc
09 - Christine Hartig und Sylvelyn Hähner-Rombach (Ulm und Stuttgart) Institution, Zeitzeugen, Narration. Re-Konstruktionen der Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation
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27:28 perc
10 - Elisabeth Malleier (Wien) Die Sorge, meine Akte und ich

Die „Rettung der Cretinen“
Irmtraut Sahmland (Marburg)

Vermehrt seit 1850 fand eine intensive Auseinandersetzung über Cretinismus statt, eine Form geistiger Behinderung, die sowohl als epidemische wie auch als sporadische Form beobachtet wurde, über deren Ursachen man jedoch keinerlei gesicherte Erkenntnisse hatte. So war die Erkrankung auch nicht präzise abgrenzbar, sondern stand oftmals synonym für Idiotismus, Blödsinn oder Schwachsinn. Unterteilungen in Voll-, Halb- und Viertelcretine sollten die abgestuften Schweregrade markieren. Es war insbesondere der Arzt Guggenbühl, der auf dem Abendberg bei Interlaken in der Schweiz eine erste Heilanstalt für cretine Kinder einrichtete mit dem ambitionierten Ziel, deren als retardierte Entwicklung oder Hemmungsbildung verstandene geistige und körperliche Beeinträchtigungen durch geeignete Maßnahmen in stationärer Pflege ausgleichen und ihnen eine gute Prognose geben zu können. Der Abendberg erregte international großes Aufsehen, scheiterte jedoch letztlich, so dass die Anstalt um 1860 geschlossen wurde. Gleichwohl war dies die Initialzündung zur „Medikalisierung“ von Kindern und Jugendlichen mit zum Teil schwerwiegenden geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen. In vielen Regionen wurden Anstrengungen unternommen, um das Vorkommen der Erkrankung zu erfassen, einerseits durch statistische Erhebungen, andererseits durch Feldforschungen reisender Ärzte. In Verbindung damit wurden Heil- und Pflegeanstalten für cretine und idiotische Kinder gefordert. Bis 1881 werden allein in Deutschland 32 solcher Anstalten aufgeführt, die sich in Trägerschaft, Größe und finanzieller Ausstattung sehr unterschieden. Das Interesse des Beitrags zielt auf die Rekonstruktion der Argumente, Intentionen und Strategien der unterschiedlichen Protagonisten in diesem Aktionsfeld. Die Diskussion wurde sowohl von Ärzten wie auch von Pädagogen und Theologen geführt; deren Blick auf die kranken Kinder und Jugendlichen erweist sich jeweils als sehr verschieden. Darüber hinaus geht es zwischen den verschiedenen Disziplinen um die Deutungsmacht über den Bedarf der kranken Kinder und die angemessene Form der Hilfsangebote sowie das Aushandeln von Interaktionsmöglichkeiten in den Anstalten.

Moderation: Lisa Pfahl, Innsbruck

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