Erst in den 1970er Jahren wurden die patriarchalen Vorrechte des Mannes im österreichischen Ehe- und Kindschaftsrecht beseitigt. Die Definition von Familie als verschiedengeschlechtliches, verheiratetes Paar mit Kindern blieb dabei unverändert. Gleichzeitig sah der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch unverheiratete Eltern und ihre Kinder vom grundrechtlichen Schutz des Rechts auf Familienleben erfasst, und seit Beginn des 21. Jh. bestätigt der EGMR dieses Recht auch für gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern. Obwohl die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in Österreich im Verfassungsrang steht, stieß das Parlament keine diesbezüglichen Rechtsreformen an. So musste der Verfassungsgerichtshof im Wege der Aufhebung gleichheitswidriger Normen Neuerungen erzwingen und unzulässige Diskriminierungen im Familienrecht beseitigen. Damit kam es 2013 zur endgültigen Überwindung der rechtlichen Unterscheidung zwischen in- und außerhalb einer Ehe geborener Kinder bzw. der Kinder von hetero- oder homosexuellen Eltern, weiters 2015 zur Reform des Fortpflanzungsmedizinrechts und schließlich 2019 zur Öffnung von Ehe und eingetragener Partnerschaft unabhängig von Geschlecht oder sexueller Orientierung. Aktuell wird – ebenfalls durch Spruch des VfGH veranlasst – eine Neuregelung des Abstammungsrechts vorbereitet, die die Fortpflanzungsfreiheit und die soziale Elternschaft stärken soll.
Der Vortrag wird neben einer kurzen Darstellung dieser Entwicklungen insbesondere der Frage nachgehen, ob nunmehr alle Eltern-Kind-Verhältnisse bzw. das Rechtsinstitut Familie diskriminierungsfrei geregelt sind oder weitere Reformen notwendig wären. Grundsätzlich geht der österreichische Gesetzgeber von einer Zwei-Eltern-Familie als Grundmodell aus und das Verbot der Leihmutterschaft soll weiterhin aufrecht bleiben, was sowohl Frauen als auch Männer in bestimmten Konstellationen hinsichtlich ihrer Reproduktionsfreiheit ungleich behandelt. Behörden und Gerichte anerkennen durch Bestätigung ausländischer Abstammungsnachweise zwar den faktischen Fortpflanzungstourismus und erleichtern so die reale und rechtliche Lage etlicher Familien; Rechtsgarantien bestehen jedoch nicht. Auch in Zusammenhang mit Adoptionen oder sogenannten Co-Parenting-Vereinbarungen müssen die Gerichte immer wieder tätig werden, und Stiefeltern- und Patchwork-Familien sind gesellschaftliche Realität. Wäre es somit juristisch nur konsequent, Elternschaft tatsächlich neu zu denken und zu fordern, dass mehr als zwei Personen rechtliche Eltern eines Kindes sein können?
Karin Neuwirth, Dr.in iur., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und stellvertretende Institutsvorständin am Institut für Legal Gender Studies an der Johannes Kepler Universität Linz (JKU). Sie ist in der universitätspolitischen Gleichbehandlung engagiert und Vorsitzende der Schiedskommission der JKU, Mitglied der interdisziplinären Sektion Familienforschung der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie sowie Mitglied der Österreichischen Gesellschaft für Geschlechterforschung.
Ihre Forschungsschwerpunkte sind Antidiskriminierungsrecht, Geschlechterverhältnisse und (historisches) Familienrecht.
Veröffentlichungen zum Thema der Lecture:
- Vater, Mutter, Elternteil – und wer weiter? iFamZ 2023, 6–8;
- Vom Ehekonzept des ABGB zur Pluralität familiärer Lebensformen, in Ulrich/Greif/Neuwirth (Hrsg), Kritisches Rechtsdenken I. Von der feministischen Rechtsgeschichte zu Legal Gender Studies (2020) 209–245;
- Elternschaft neu oder wie viele Elternteile braucht ein Kind? Blogbeitrag in Junge Wissenschaft im Öffentlichen Recht, https://www.juwiss.de/52-2015/.
Kommentar: Caroline Voithofer, Institut für Theorie und Zukunft des Rechts, Universität Innsbruck
Moderation: Monika Niedermayr, Institut für Zivilrecht, Universität Innsbruck